Auf der Höhe der Zeit

Geliebtes Wahrzeichen und Ikone der Moderne: 100 Jahre lang prägte die klassische Würfeluhr das Wiener Straßenbild – bis das symbolträchtige Stadtmöbel zu Beginn des neuen Jahrtausends in die Krise geriet.

Wie spät ist es? Diese Frage möglichst exakt zu beantworten gewann im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung. Hatten noch zweihundert Jahre zuvor die Uhren ausschließlich über einen Stundenzeiger verfügt, war der zusätzliche Minutenzeiger inzwischen unverzichtbar geworden. Industrialisierung und Urbanisierung, vor allem aber die rasante Entwicklung des Eisenbahnwesens hatten den Trend zur „Verzeitlichung“ der Gesellschaft vorangetrieben. Berufliche wie private Aktivitäten wurden immer stärker standardisiert, getaktet und an den abstrakten Rhythmus der Uhr angepasst. Insbesondere in den wachsenden Metropolen machte sich diese Entwicklung bemerkbar – nicht zuletzt auch am Stadtbild.

So gab es etwa in der k. und k. Reichshauptstadt Wien im Jahr 1902 bereits 69 öffentliche Uhren, die meisten davon auf Kirchtürmen, aber auch einige Fassaden- und Ständeruhren. Das symbolträchtigste „Zeitzentrum“ war der Stephansdom, traditioneller Regulator des täglichen Lebens mit gleich vier Chronometern unterschiedlicher Bauart. Sein profanes Pendant hatte er 1884 mit dem neuen Rathaus erhalten, dessen Turm ebenfalls mit vier gut sichtbaren Zeitmessern ausgestattet war. Weitere Uhren befanden sich in der Hofburg, an der Feuerwehrzentrale, auf Bahnhöfen, Amtsgebäuden und Kasernen.

Gemeinsam war ihnen allen eines: die beständigen Klagen über ihre Ungenauigkeit. Die Wiener Uhrenmisere war geradezu sprichwörtlich und beherrschte jahrzehntelang den Diskurs zur öffentlichen Zeitnehmung. Ein Übelstand, der sich direkt auf das Alltagsleben auswirkte, denn die öffentlichen Uhren waren es, nach denen man auch die privaten richtete. In Anbetracht dieser dem Image der aufstrebenden Großstadt abträglichen Situation wurde das „Uhrenreferat“ des Wiener Stadtbauamtes angewiesen, gemeinsam mit dem renommierten Fabrikanten „Ing. Emil Schauer“ eine völlig neuartige, nunmehr elektrisch betriebene Uhr zu entwickeln. Diese sollte zwei Kriterien erfüllen: Sie sollte eine exakte Zeitangabe garantieren und für die Passanten von allen Seiten gut sichtbar sein.

Ende August 1907 war es so weit: Der Prototyp wurde an einem Lichtmast an der Kreuzung Opernring/Kärntner Straße in etwa sieben Meter Höhe installiert. Neben dem elektrischen Antrieb konnte man noch auf weitere Innovationen verweisen: Das würfelförmige, an den Ecken abgeschrägte Gehäuse war mit vier runden Zifferblättern bestückt, womit es sich deutlich von den meist dreiseitigen Ständeruhren unterschied. Die Anzeige selbst erfolgte nicht mehr durch römische oder arabische Ziffern, sondern durch Punkte bzw. Striche unterschiedlicher Größe, die die Stunden- und Minutenteilungen markierten. Sorgfältige Versuche des Stadtbauamtes hatten ergeben, dass diese Abstrahierung auf die Entfernung absolut unproblematisch war. Im Gegenteil: Die sparsam bedruckten Scheiben von rund einem Meter Durchmesser verbesserten sogar die Sichtverhältnisse und ermöglichten damit deutlichere Zeitangaben als bisher.

Erfolgreicher Probelauf

Die eigentliche Antriebsuhr war in der nächstgelegenen Plakatsäule an der Ringstraße untergebracht, von wo sie durch elektrische Impulse die Zeigerwerke im Würfelgehäuse steuerte. Bei Stromausfall war eine zwölfstündige Gangreserve vorgesehen, die bei Wiedereinsetzen der Spannung die „Mutteruhr“ bis zur richtigen Zeit nachstellen konnte.

Die Reaktion der Öffentlichkeit war durchaus wohlwollend. Stolz wiesen die Tageszeitungen auf die erste elektrische Straßenuhr Wiens hin und lobten ihren geringen Platzbedarf. Die Einteilung der Anzeige wurde den Lesern genauestens erklärt, und es wurde zuversichtlich darauf hingewiesen, dass man trotz des neuen Darstellungssystems sowohl bei Tag als auch bei Nacht die Stunde leicht werde ablesen können.

Insgesamt war der Probelauf der neuen Uhr derart überzeugend, dass die Kommune schon bald weitere „Würfeluhren“ aufstellen ließ: am Mariahilfer Gürtel nahe dem Westbahnhof (1910), am Schottenring (1913) und am Rudolfsheimer Markt (Schwendermarkt, 1915).

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte dann die erste große Expansionsphase ein. Voraussetzung dafür war die Versorgung mit elektrischem Strom, die ab Mitte der 1920er-Jahre forciert in Angriff genommen wurde. Die Beleuchtung der Straßen und Plätze schritt voran, unzählige Lichtmasten wurden aufgestellt und mit ihnen auch viele Würfeluhren. Errichtet wurden sie an stark frequentierten Orten sowohl in der inneren Stadt wie auch in den Außenbezirken. Ende des Jahres 1938 zählte man bereits 37 Würfeluhren in ganz Wien.

Ihr Design blieb dabei weitgehend unverändert. Allerdings hatte man begonnen, die Zifferblätter mit Werbeaufschriften zu versehen. Sowohl die Erzeugerfirma als auch die Stadt Wien verewigten sich: „Ing. Emil Schauer“ oder nur „Schauer“ war nun dort zu lesen. Auch das Stadtwappen und das Wort „Normalzeit“ tauchten auf – ein wichtiger Hinweis, garantierte er doch die Genauigkeit und Richtigkeit der Zeitanzeige.

Die Würfeluhr geriet zu einer Ikone der Moderne, die das erstarkte Selbstbewusstsein der Stadt ebenso spiegelte wie die zunehmende Beschleunigung des urbanen Alltags. Ein symbolträchtiges Stadtmöbel auf der Höhe der Zeit, welches das Straßenbild prägte und Wien im internationalen Städtewettbewerb einen dringend notwendigen Modernisierungsschub verlieh. Darüber hinaus waren die öffentlichen Uhren auch ein wichtiges Mittel der sozialen Selbstvergewisserung. Ein Umstand, der im 1922 zum Bundesland erhobenen und fortan sozialdemokratisch regierten „Roten Wien“ besondere Relevanz erhielt. Die Zeitmesser stifteten Identität und Ordnung und wurden so zu einer Macht, die den Verlust der traditionellen politischen und sozialen Ordnungsbegriffe zu transformieren imstande war.

Ende des Zweiten Weltkriegs waren sämtliche öffentliche Uhren beschädigt und außer Betrieb. Erst nach und nach konnten sie wieder in Stand gesetzt werden. Als es 1948 endlich gelang, über das Leitungsnetz der Wiener Feuerwehr eine zentrale Uhrensteuerung zu realisieren, wurde auch die Neuerrichtung der Würfeluhren vorangetrieben. Ihre Zahl erhöhte sich sukzessive, bis man 1980 mit 78 Stück den Höchststand erreichte.

Waren Zeiger und Zifferblatt bisher ungeschützt der Witterung ausgesetzt gewesen, so stattete man ab den Sechzigerjahren alle Uhren, alte wie neue, mit einer Glasabdeckung aus. Und auch die Genauigkeit der Zeitanzeige konnte laufend gesteigert werden: 1971 wurde am Heumarkt die erste funkgesteuerte Würfeluhr in Betrieb genommen; 1987 rüstete man in der Wiener Innenstadt ein Versuchsexemplar auf Steuerung durch DCF77-Signal um (vom deutschen Zeitzeichensender in Mainflingen per Langwellenimpuls übermittelt); 15 Jahre später wurde die Steuerung bereits vermehrt per Satellitennavigation GPS vorgenommen.

Da war die Würfeluhr schon längst zu einem unverkennbaren Wahrzeichen der Stadt avanciert. Weithin erkennbar, war sie nebenbei auch zu einem idealen Treffpunkt und Rendezvousplatz geworden. Welch starke emotionale Bindung an die Würfeluhren existierte, wurde immer dann deutlich, wenn eine von ihnen demontiert werden musste. Franz Furtner, seit 1956 Mitarbeiter der Magistratsabteilung 33 und mehr als drei Jahrzehnte lang für den Betrieb der Würfeluhren zuständig, erinnerte sich an einige solcher Gelegenheiten: „Die Uhren waren ein Gewohnheitsrecht an bestimmten Plätzen. Wenn eine abmontiert wurde, hat sich die Bevölkerung aufgeregt. Es hat einfach zum Stadtbild dazugehört, ein Element, das signalisiert: Hier sind wir zu Hause, in Wien, hier bin ich daheim.“

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kamen die Würfeluhren in die Krise. Nicht nur die Hülle war vielfach erneuerungsbedürftig, auch das technische Innenleben stand zur Umrüstung an. Zudem schien die massenhafte Verbreitung von Armbanduhren und Handy-Zeitanzeigen einen markanten Bedeutungsschwund einzuleiten. In einer Umfrage unter Wiens Bezirksvorstehungen wurden die Würfeluhren nur mehr von der Hälfte als zeitgemäß erachtet. Viele beklagten die hohen Kosten für die Wartung und den laufenden Betrieb, eine Komplettsanierung erschien als unerfreuliche Belastung der Bezirksbudgets.

Kommerzialisierung der Zeit

Eine Lösung wurde in der Privatisierung der Uhren gefunden. Die gemeindenahe „Wiener Städtische Versicherung“ übernahm die Kosten für die Sanierung und erhielt im Gegenzug das Recht, auf sämtlichen Zifferblättern mit ihrem Firmenlogo zu werben. Die alten Gehäuse aus verzinktem Blech wurden durch neue aus wetterfestem Nirosta ersetzt.

Die 2007 abgeschlossene Vereinbarung erregte einiges mediales Aufsehen. Kritiker bemängelten die Intransparenz der Vergabe, vor allem aber das Aussehen der neuen Uhren: Die dünnen Zeiger wurden vom dominanten Firmenlogo überschattet, sodass die Zeit von der Ferne nur mehr mit Mühe ablesbar war. Zwar hatte es, wie erwähnt, auch auf manch alten Würfeluhren Firmenwerbung gegeben, die Eindeutigkeit der Zeitwahrnehmung war jedoch stets vorrangig geblieben. Die nun erfolgende Kommerzialisierung der Zeit kehrte dieses Verhältnis radikal um.

Im Frühjahr 2008 wurde daher ein neues Zifferblatt mit besserer Lesbarkeit präsentiert. Die ästhetische Gesamtqualität war für manche jedoch auch diesmal fragwürdig. Enttäuscht reklamierte etwa der Wiener Architekturkritiker Christian Kühn: „Von der Funktionalität und Klarheit des über 100 Jahre alten Vorgängers kann man nur noch träumen.“

Diese zweite Generation der Würfeluhren umfasst heute 73 Stück, bei insgesamt rund 200 öffentlichen Chronometern in Wien, die im Ländervergleich nach wie vor eine solide Zeitinfrastruktur darstellen. Die alten Würfeluhren aber werden, angesichts ihres Verschwindens, zunehmend als wertvolle Designstücke anerkannt. Sie fanden Eingang in die Literatur, wurden in Ausstellungen gewürdigt, von Museen gesammelt. Und mit dem kürzlich erfolgten Erwerb des Altbestandes durch die Wiener Kunsthandelsfirma Lichterloh wurden sie endgültig auch zum Kunstobjekt geadelt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2011)

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