Rückenleiden: Nicht fürs Sitzen gemacht

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Der Mensch ist vor allem für Gehen, Liegen oder Kauern geeignet. Am liebsten aber sitzt er. Und das ist schlecht, so Mediziner und Therapeuten. Diese Haltung trägt maßgeblich zum Entstehen von Rückenleiden bei.

Mit dem Sitzen ist es so eine Sache. Auf den ersten Blick ist es die harmloseste, unauffälligste und vielseitigste Form der menschlichen Haltung. Sitzen gilt als Sinnbild von Entspannung und Gemütlichkeit genauso wie als Inbegriff von Arbeit und Konzentration. Von Kindern wird es als notwendige Voraussetzung verlangt („Sitzfleisch“), um sich als Teil der Bildungsgesellschaft zu qualifizieren und nach jahrelangem Sesseldrücken in diversen Ausbildungsstätten (hoffentlich ohne „Sitzenbleiben“) in einer jener Professionen zu landen, die noch immer mit einem gewissen Hauch von Hochachtung den „sitzenden Berufen“ zugeordnet werden. Wer sitzen darf, hat's gut. Davon ist unsere Gesellschaft im Grunde noch immer überzeugt.
Mittlerweile versuchen allerdings ganze Berufsstände, sie eines Besseren zu belehren. Mit drastischen Ansagen: „Der Mensch“, meinen Orthopäden, Physiotherapeuten und Fitness-Praktiker in seltener Einigkeit, „ist nicht fürs Sitzen gemacht.“ Die Schäden, die daraus entstehen, tragen maßgeblich zu dem bei, was gern als Volkskrankheit Nummer eins bezeichnet wird: den Rückenleiden. Die daraus resultierenden direkten und indirekten Kosten belasten die Budgets der industrialisierten Länder mittlerweile mit zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

85 Prozent haben Rückenprobleme. „Rückenschmerzen sind wie ein Schnupfen. Fast jeder bekommt sie mindestens einmal im Leben“, meint eine Physiotherapeutin mit jahrelanger Erfahrung. Genaue epidemiologische Zahlen sind in Österreich zwar kaum vorhanden, die Schätzungen weichen allerdings nicht sonderlich weit voneinander ab: Zwischen 80 und 85 Prozent der österreichischen Bevölkerung haben oder hatten Probleme mit dem Rücken.
Eine der Hauptursachen ist eine Tätigkeit, die normalerweise gar nicht als solche erkannt wird. „Sitzen wird unterschätzt, es ist eine absolut belastende Haltung, vor allem für die Wirbelsäule“, sagt Martin Friedrich, Leiter der Abteilung für Orthopädische Schmerztherapie im Orthopädischen Spital Speising und Initiator von Ceops (Center of Excellence for Orthopaedic Painmanagement Speising). Der Grund ist, dass der Mensch von seinem „Gerüst“ her nicht für sitzende Positionen angelegt ist. „Sitzen ist nicht physiologisch adäquat. Physiologisch war das Kauern. In Afrika machen das die Leute ja heute noch. Dort sind auch die älteren Menschen noch sehr beweglich“, sagt der Fitness-Experte Werner Kieser, dessen Devise es ist, Rückenleiden durch die Kräftigung der Muskeln zu beheben (siehe Interview).

Erschöpfte Muskeln.
Sitzen belastet den menschlichen Körper, weil es eine inadäquate Benutzung der Muskeln darstellt. „Man muss sich das so vorstellen, als würde man den ganzen Tag den Bizeps anspannen, um ein Packerl Milch zu halten“, erklärt ein Physiotherapeut. „Diese Art der Haltearbeit kann kein Muskel ewig verrichten.“ Beim Sitzen über lange Zeit geben daher die „erschöpften“ Muskeln die Arbeit an die stärkeren ab.
Normalerweise arbeiten der Gesäßmuskel und die Rückenstrecker zusammen, um den Rücken aufzurichten. Je schwächer die Rückenstrecker werden, umso mehr muss der Gesäßmuskel leisten. Das bedingt Ungleichgewichte in der gesamten Statik.
Zu langes Sitzen führt daher bei den meisten Menschen dazu, dass sie in sich zusammensinken und dadurch im Lauf der Zeit der Pectoralis (größerer Brustmuskel) verkürzt und die Nackenmuskulatur verspannt wird. „Um sich wieder aufzurichten, braucht man eine gewisse Haltemuskulatur, die hat man aber nicht mehr“, sagt Kiesers Frau, die Ärztin Gabriela Kieser. Wenn diese Haltefunktion nicht genügt, seien aber auch Rückenschulungen und Sitztrainings sinnlos, weil die Rückenmuskulatur die notwendige Leistung gar nicht mehr erbringen könne.
Diese typische zivilisierte Haltung  führt langfristig oft auch zum Rundrücken, der wiederum die Brust und den oberen Bauchraum einengt. Manche Ärzte meinen, dass dadurch auch die Lungen weniger Platz bekommen und in ihrer Funktion eingeschränkt werden können.
Besonders laut tickt die Zeitbombe der verkümmerten Rückenmuskeln bei Jugendlichen. „Die bauen diese Haltemuskulatur gar nicht mehr auf, weil sie zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen“, sagte Gabriela Kieser. Ab dem Alter von zehn Jahren sinkt laut Untersuchungen die Anzahl der Stunden, die Jugendliche mit körperlicher Aktivität verbringen, die Zeit vor Fernseher oder Computer hingegen steigt.
Die Zunahme der Rückenschäden, die durch Sitzen hervorgerufen werden, unterstreicht diesen Eindruck. „Die Arbeit am Computer ist ein großes Thema“, sagt der Schmerzexperte Martin Friedrich. „Dadurch wird vor allem die Halswirbelsäule belastet.“ Friedrich sieht das Hauptproblem darin, dass die meisten Menschen nicht nur zu lange, sondern auch unrichtig sitzen. „Die einzigen, die uns hier Arbeit abnehmen können, sind die Ergotherapeuten, die einen Arbeitsplatz vermessen und zum Beispiel die richtige Sitzhöhe einstellen.“
Im Gegensatz zu dem, was Kindern oft vorgeschrieben wird, empfiehlt Friedrich, nicht allzu ruhig zu sitzen, um nicht ständig dieselbe Stelle – vor allem dieselbe Bandscheibe – zu belasten. „Beim Schreiben nimmt man die vordere Sitzposition ein, ansonsten eher die hintere. Am besten aber ist eine dynamische Haltung, bei der man regelmäßig wechselt, wie man sitzt. Außerdem sollte man immer wieder Tätigkeiten im Stehen verrichten.“
Zwei Elemente verschärfen die Situation rund ums Sitzen allerdings. Das eine ist, dass viele Menschen überhaupt nicht realisieren, dass sie sich kaum mehr bewegen. Ihnen klarzumachen, dass sie etwas tun müssen – und zwar auch dann noch, wenn die akuten Schmerzen wieder verschwunden sind –, ist einer der größten Knackpunkte für Ärzte und Therapeuten. „Patienten zu motivieren ist das Schwierigste“, sagt Friedrich. „Gewonnen ist die Sache oft erst dann, wenn sie merken, dass sie sich selbst am meisten helfen können.“

Der psychische Faktor. Der zweite Punkt ist die Zunahme psychischer Probleme. Druck und Stress am Arbeitsplatz können sich direkt auf den Rücken auswirken. „Angst ist verheerend für die Muskulatur“, meint Friedrich. „Das führt zu Verspannungen, und die verursachen wieder Schmerzen.“ Er schätzt, dass um die 20 Prozent auf psychische Ursachen zurückzuführen seien, unter anderem auf Burn-out. „Mit diesen Patienten muss man sehr vorsichtig umgehen“, sagt er, „und ihnen erst einmal die Gelegenheit geben, sich wieder zu fangen.“ 

Auf einen Blick

Auf, auf!
Die Belastung durch Sitzen wird allgemein unterschätzt. Es zwingt die Muskeln zu einer Anspannung, die sie vor allem über einen längeren Zeitraum nicht leisten können. Daher geben sie die Arbeit an den stärkeren Gesäßmuskel ab, die Rückenstrecker aber werden immer schwächer. Die Arbeit am Computer gilt unter Ärzten und Therapeuten als eines der Hauptprobleme. Dadurch wird vor allem die Halswirbelsäule in Mitleidenschaft gezogen.
Psychische Probleme verschärfen die physische Situation. Burn-out zählt zu den Zuständen, die sich in Verspannungen niederschlagen, die wiederum Schmerzen verursachen.

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