"Vereine müssten den Ultras dankbar sein"

Fan-Experte Michael Gabriel bricht eine Lanze für die Fankultur der Ultras. Gewalt im Fußball müsse mit Dialog, nicht nur mit Polizei begegnet werden, meint der frühere U20-Nationalspieler.

Was hat es mit Fußball zu tun, wenn sich Fans auf einem Bahnsteig auflauern, um sich zu verprügeln?

Michael Gabriel: Das hat etwas mit den spezifischen Vorstellungen der Ultras über ihre Fankultur zu tun, bei der neben Unterstützung und Anfeuerung auch Gewalt in Teilen toleriert wird. Die Ultras sind ja nicht die erste Gruppierung, bei denen Gewalt eine Rolle spielt. Ein herausragendes Beispiel in Europa waren früher die Hooligans, die viel deutlicher als die Ultras formuliert haben: Wir gehen zum Fußball, um uns auch mit anderen Fans zu prügeln.

Beide Gruppen prügeln sich. Für den nicht eingeweihten Beobachter besteht kein Unterschied zwischen Hooligans und Ultras. Muss man differenzieren?

Ganz dringend, bei den Ultras steht Anfeuerung, nicht Gewalt an erster Stelle. Zur allgemeinen Einordnung ist aber zu bedenken, dass es Gewalt beim Fußball immer gab. Bereits 1880 gab es in England aufgrund der Übergriffe Vorschläge, das Fußballspiel generell zu verbieten. Nur die Art der Gewalt hat sich verändert. Früher gab es die „heiße Gewalt“, sie war an das Spiel gekoppelt. Bei den Hooligans stand später die Gewalt plötzlich für sich selbst.

Warum entwickelte sich die Fankultur in Richtung dieser spezifischen Ausformung der Gewalt?

Das hängt mit der Entwicklung des Fußballs zusammen. Der Profifußball hat sich weg von den Zuschauern und hin zu einem kommerziellen Showunternehmen entwickelt. Zuschauer und Spieler, die Stars, haben sich immer weiter voneinander entfernt. In dieser Entwicklung haben sich die Hooligans als erste Gruppe vom Spiel abgewandt und ihr eigenes Spiel abseits des Feldes selbst kreiert. Und da stand die Lust an der Gewalt im Vordergrund.

Und die Ultras?

Die Ultras sind da viel differenzierter zu betrachten. Im Grunde genommen müssten die Verbände und Vereine dafür dankbar sein, dass die Ultras in die Fankultur und in die Stadien gekommen sind. Weil sie die Atmosphäre ganz eminent verbessert und das Ereignis Fußball noch attraktiver gemacht haben. Und sie haben dazu beigetragen, dass der Hooliganismus massiv an Bedeutung verloren hat. Fast alle jungen Leute, die heute in die Kurve kommen, wenden sich den Ultras zu.

Wenn man Ihnen so zuhört, könnte man meinen, Ultras sind lauter fromme Lämmer?

Sind sie nicht. Aber die Ultras haben dazu beigetragen, dass Rassismus und rechtsextreme Äußerungen in den Kurven vielerorts verschwunden sind. All diese positiven Aspekte der Ultra-Kultur sind bei den Vereinen, Verbänden und Medien auf Ignoranz gestoßen.

In Wien scheint allerdings das Gegenteil eingetreten zu sein: Da gewährte Rapid seinen Ultras de facto Narrenfreiheit – und als Danke gab es einen Platzsturm.

Die Gewalt ist mittlerweile leider ein Bestandteil der Ultra-Kultur. Ich wollte allerdings die Vielschichtigkeit aufzeigen und auch die positiven Facetten erwähnen, damit die negativen Aspekte, die es zweifelsohne gibt, nicht überhöht werden, sondern realistisch benannt werden können.

Es gibt, so hat man vielerorts den Eindruck, ein Agreement zwischen Klubs und Ultras. Solange ihr im Stadion friedlich seid, ist alles in Ordnung. Dass es bei Auswärtsspielen und bei organisierten Kämpfen zu massiver Gewalt kommt, wird ignoriert.

Sie sprechen sehr problematische Entwicklungen innerhalb der Ultra-Szene an, die wir auch in Deutschland beobachten. Das Interesse am Sport lässt nach, während die Bedeutung der eigenen Gruppe überhöht wird. Auf diese Entwicklung haben die Vereine bisher keine Antwort gefunden.

Aber die Klubs können doch keine Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklungen übernehmen.

Das nicht, aber: Der Fußball hat einerseits eine positive soziale Bedeutung für die Gesellschaft, wie bei der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund. Andererseits tut die Gesellschaft auch viel für den Fußball. In Stadionneubauten und auch für polizeiliche Aufgaben fließen Steuergelder. Auch aus diesem Grund hat der Fußball eine gesellschaftliche Verantwortung. Und selbstverständlich haben die Vereine den jungen Menschen gegenüber, die den Verein mit ihren Emotionen, ihrer Zeit und ihrem Geld unterstützen, eine Verantwortung, die natürlich nicht am Stadionzaun enden darf.

Kommen wir wieder auf die Gewalt zu sprechen: Wenn Sie sagen, dass es kaum mehr Hooligans gebe und die Gewalt bei den Ultras zumindest nicht im Zentrum stehe, dann hieße dies, dass die Gewalt im Fußball zurückgehen würde. Ist das so?

Obwohl die polizeilichen Zahlen zum Teil etwas anderes ausdrücken, sagen die Fanprojekte, dass sich die Atmosphäre in Deutschland beim Fußball deutlich zivilisiert hat. In Deutschland sind die Stadien voll, weil die Stimmung auch dank der Ultras elektrisierend ist und es dort sicher ist. Ich würde gern noch einen anderen Aspekt betonen: Aus pädagogischer Sicht sind die Ultras eine ernst zu nehmende, auch wertzuschätzende gesellschaftliche Sozialisationsinstanz für junge Menschen. Die Bedeutung, die die Subkultur der Ultras für junge Menschen hat, verweist auf massive Leerstellen in der Gesellschaft. Würde das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Wertschätzung in der Familie, Schule, Kirche, politischen Parteien erfüllt werden, würden sich nicht so viele Jugendliche den Ultras zuwenden.

Was bieten die Ultras, was die anderen Gruppen nicht bieten?

Dass dort jede und jeder willkommen ist, jeder und jedem wird die Möglichkeit des Engagements gegeben. Von wegen „junge Leute interessieren sich für nichts, engagieren sich nicht, hocken nur isoliert vor dem Computer“ – bei den Ultras hat jeder die Chance, seine Potenziale einzubringen. Da wird nicht wie in der Schule oder an der Lehrstelle geurteilt, sondern da genügt es, dass man die ganze Nacht ein Transparent malt. Dadurch erfahren die jungen Leute Wertschätzung und Zusammengehörigkeit.

Wie kann man die Probleme rund um den Fußball lösen?

Es wird nicht allein durch polizeiliche Mittel zu lösen sein. Sondern durch intensiven Dialog und Einbindung der Fußballfans in die betreffenden Entscheidungen. Eine verantwortungsvolle Politik müsste sich die Frage stellen, warum die Ultras mittlerweile zumindest in Deutschland die größte jugendliche Subkultur sind.

Warum gibt es mehr Ultras als Pfadfinder?

Fankultur ist und war immer attraktiv für Jugendliche, weil hier die Erwachsenen keine Rolle spielen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2011)

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