Nokia N9 im Test: Eine finnische Tragödie

Nokia Test Eine finnische
Nokia Test Eine finnische(c) Presse Digital (Daniel Breuss)
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Das Smartphone setzt auf das ungewöhnliche MeeGo-Betriebssystem. DiePresse.com hat geprüft, ob es mit der Konkurrenz mithalten kann. Die "Swipe"-Bedienung hebt das Gerät aus dem Mitbewerb hervor.

Mit dem Nokia N9 ist das erste Smartphone mit MeeGo-Betriebssystem erschienen - und vermutlich auch das letzte. Vielerorts wurde das Gerät schon bei seiner Vorstellung im Juni als "Totgeburt" bezeichnet, denn Nokia will in Zukunft auf das Microsoft-System Windows Phone setzen. Gerüchten zufolge hielt Firmenchef Stephen Elop die Entwicklung des N9 sogar aktiv zurück. Und mehrere Medien schrieben, dass das Handy kein Erfolg werden dürfe, da sonst der gesamte im Februar dargelegte Schlachtplan, der Windows Phone zum Maß der Dinge erhebt, infrage gestellt werden könnte. Aber hätte das N9 überhaupt das Potenzial, Nokias Zukunft noch zu verändern? DiePresse.com hat das Smartphone ausführlich getestet, um genau das herauszufinden.

Hübsch und solide

Einmal angefasst, fallen sofort zwei Dinge auf. Es schaut trotz seiner Schlichtheit wirklich gut aus und fühlt sich hochwertig an. Gegen den Branchentrend nutzt Nokia nicht Aluminium, sondern einen "Polycarbonat" getauften Kunststoff für das Gehäuse. Es vermittelt einen soliden Eindruck und umschließt Display und Innereien nahtlos. Bei Materialanmutung und Verarbeitungsqualität können sich andere Hersteller, insbesondere aus dem südostasiatischen Raum, noch einiges abschauen. "Made in Finland" ist anscheinend noch immer etwas wert. Farblich bietet Nokia Schwarz, Cyan und Magenta an. Letztere beiden werden redaktionsintern aber "Blau" und "Rosa" genannt.

Bei den Anschlüssen gibt sich das N9 mager. Lediglich eine Kopfhörerbuchse und ein Micro-USB-Anschluss sind verfügbar. Letzterer auch nur, wenn man eine Klappe am oberen Ende des Geräts öffnet. Hat man das getan, kann man ein weiteres Element öffnen: Den Micro-SIM-Einschub. An der rechten Seite gibt es die einzigen drei Tasten: Einschalten, lauter, leise. Das war es. Leider fällt die Lautstärkewippe recht klein aus, im Betrieb kann man "lauter" und "leiser" leicht verwechseln.

Touchscreen-Zentrale

Einmal eingeschaltet, begrüßt den Nutzer eines der aktuell schönsten Displays auf dem Handymarkt. Dank "Clear Black" AMOLED-Technik strahlen die 854 x 480 Pixel in leuchtenden, kräftigen, ganz leicht übersättigten Farben. Nokia tat gut daran, hier einen brauchbaren Bildschirm zu nutzen, denn der 3,9-Zoll-Touchscreen ist das wichtigste Steuerelement des N9. Zahlreiche Aktionen lassen sich nur über Wischgesten per Finger durchführen. Das Gerät lässt sich nicht nur mit dem seitlichen Einschaltknopf aufwecken, sondern auch über doppeltes Antippen des Touchscreens.

So konsequent wie beim N9 hat noch kein anderer Hersteller die reine Touchscreen-Steuerung umgesetzt. Wischt man den Sperrbildschirm zur Seite, landet man im Startbildschirm mit allen installierten Apps. Wischt man nach links, zeigt das N9 alle aktiven Benachrichtigungen, sowie Nachrichten aus den Feeds von Facebook und Twitter an. Das aktuelle Wetter ist hier auch zu finden. Wischt man vom Startbildschirm aus nach rechts, erscheint die Multitasking-Ansicht mit je vier gleichzeitig sichtbaren Vorschaubildern. Diese zeigen nicht nur statische Bilder dar, sondern Live-Ansichten. So kann man etwa die "Karten"-App auch so nutzen - sofern die eigene Sehstärke ausreicht.

Mit einem Wisch ist alles weg

In den Apps setzt sich die von Nokia nicht sonderlich originell "Swipe" genannte Steuerung weiter fort. Wischt man vom Bildschirmrand hinein, schließt sich die gerade geöffnete Anwendung. Innerhalb der E-Mail-Anwendung kann man per Wischer gerade geöffnete Nachrichten durchblättern. Hier ist aber Vorsicht geboten, damit man nicht zu weit am Rand mit der Fingergeste beginnt. Ansonsten schließt sich die App wieder zum Ärger des Benutzers.

Hereinkommende Nachrichten, sei es per E-Mail, SMS, Skype oder Facebook, werden direkt auf dem Sperrbildschirm angezeigt. Zieht man eine dieser Benachrichtungen zur Seite, öffnet sich direkt das relevante Programm dafür, wobei unter "Mitteilungen" alle drei letztgenannten Beispiele vereint sind. Das N9 reagiert übrigens auf alle Eingaben flott und butterweich. Dafür sorgen der 1-Gigahertz-Prozessor und 1 Gigabyte RAM, sowie ein dedizierter Grafik-chip. Außer, es ist gerade der Meinung, eine Nachdenkpause einlegen zu müssen. Das kommt aber recht selten vor. Lässt man allerdings zu viele Apps auf einmal geöffnet, kann man das Gerät durchaus überfordern.

Dünne App-Suppe

Aufgrund der stiefmütterlichen Unterstützung, die MeeGo erfährt, ist das App-Angebot im Nokia Store recht mager. Einige wichtige Anwendungen sind aber bereits vorinstalliert. Neben Twitter und Facebook gibt es Unterstützung für Skype, sowie eine Notizanwendung. Google+ fehlt leider. Die Spiele "Galaxy on Fire 2", "Need for Speed: Shift", sowie eine Abwandlung des beliebten "Angry Birds" sind ebenfalls schon verfügbar, sobald man das Gerät aus der Verpackung nimmt.

Weit interessanter im Alltag ist aber die Navigationsfunktion. "Karten" ist Nokias Pendant zu Google Maps und hilft dem Nutzer, die Orientierung zu finden. Eine Fußgänger-Navigation ist inkludiert. Startet man die separate Navigations-App, kann man das N9 auch als Auto-Navi einsetzen. Karten für 100 Länder und deutsche Sprachausgabe sind schon integriert und können auch ohne aktive Internetverbindung genutzt werden. Beide Lösungen funktionieren tadellos und sind anderswo in der Form nur kostenpflichtig zu erwerben.

Empfang? Vorhanden!

Apropos Internet. Der mitgelieferte Browser funktioniert brauchbar, allerdings ohne Flash und ohne Tabs. Letzteres ist verschmerzbar, da in der Multitasking-Ansicht jede Seite ein eigenes Vorschaufenster erhält. Besucht man eine Seite öfter, kann man sie auf dem Startbildschirm wie eine App festmachen. Beim Empfang gibt sich das N9 von seiner besten Seite. Wo andere Geräte bereits auf GPRS umschalten, hat man mit dem Nokia-Handy noch 3G-Empfang.

Dafür ist die Akkuleistung zwar in Ordnung, aber nicht auf einer Ebene, die die Konkurrenz erblassen lassen würde. Auch das N9 muss bei intensiver Nutzung jeden Abend an die Steckdose. Zieht man das USB-Ladekabel vom Gerät ab, weist das Handy seinen Besitzer darauf hin, doch das Ladegerät auch auszustecken, um Strom zu sparen. Eine liebenswürdige Geste.

Megapixel-Papiertiger

Auf der Rückseite des schicken Gehäuses ist die Kamera mit Zeiss-Lizensierung platziert. Sie bietet auf dem Papier eine Auflösung von 8 Megapixel. Diese stehen aber nur dann zur Verfügung, wenn man im Format 4:3 fotografiert. Will man das klassische Foto-Format 3:2 oder das bildschirmfüllende 16:9 nutzen, reduziert sich die Auflösung auf 7 Megapixel. Die Qualität ist durchwegs in Ordnung, kann aber nicht ganz mit der Kamera des Vorjahresmodells N8 mithalten. Ein LED-Blitz sorgt notfalls für Beleuchtung, hat aber naturgemäß nur eine geringe Reichweite. Videos schießt das N9 im HD-Format 720p in brauchbarer Qualität.

Das N9 besitzt an sich ja auch eine Frontkamera mit 1,3 Megapixel. Aus irgendeinem Grund ist es Nokia aber nicht gelungen, diese in auch nur einer einzigen mitgelieferten App zu integrieren. Weder die Kamera- noch die Skype-App können darauf zugreifen. Die App "Simple Mirror" aus dem Nokia Store bewies aber immerhin, dass die Frontkamera funktioniert.

Speicher-Tricks

Ist also alles Eitel Wonne beim Nokia N9? Hat der Hersteller hier trotz vernachlässigtem Betriebssystem ein Flaggschiff, gegen das die kommenden Windows Phones aus eigenem Hause alt aussehen werden? Nicht ganz. Je länger man es nutzt, desto mehr offenbaren sich ein paar Schnitzer und Ärgernisse. Das fängt schon beim verfügbaren Speicherplatz an. Nokia preist das N9 in seiner Basisversion als Smartphone mit 16 Gigabyte an. Davon sind aber 4,2 GB für Apps reserviert und 2,1 GB für Programmdaten.

Bleiben also noch 9,5 GB an Speicherplatz, den das N9 seinem Nutzer gewährt. Lädt man Musik drauf oder macht viele Fotos und Videos, ist der Speicher schnell voll. Damit fällt die Wahl dann doch auf das Modell mit 64 GB. Dieses ist aber nur in Schwarz verfügbar und kostet 679 statt 619 Euro. Stattliche Preise für einen Smartphone-Exoten. Das günstigste iPhone 4S mit 16GB wird vergleichbar mit dem kleinen N9 bei 629 Euro beginnen, die 64-GB-Variante aber wohl deutlich über den 679 Euro des N9 liegen. "Made in Finland" kostet anscheinend auch immer noch einiges.

Auf rechts allergisch

Aufgrund des schlanken Bildschirms fällt die Tastatur recht klein aus. Tippen klappt zwar ganz gut, aber nicht so reibungslos wie auf anderen Geräten. Dafür sind die Umlaute bereits als eigene Schaltflächen eingefügt und müssen nicht erst über langes Drücken von A, O oder U aufgerufen werden. Will man das N9 horizontal drehen, um mehr Tippfläche zu erhalten, erfährt man eine Überraschung. Das Gerät lässt sich nämlich nur links herum dazu bewegen, die Darstellung anzupassen. Will man es auf die rechte Seite kippen, bleiben die Inhalte standhaft im vertikalen Modus. Ein Sinn ist dahinter leider nicht erkennbar. Und in der mitgelieferten Facebook-App funktioniert das Drehen überhaupt nicht, wenn man einen Eintrag verfassen will. Eine Autokorrektur ist vorhanden, diese könnte aber aufgrund ihrer Leistung genausogut fehlen.

Finnische Tragödie in drei Akten

Die Geschichte des Nokia N9 ist eine Tragödie in drei Akten. Es begann alles mit einer Betriebssystem-Kooperation zwischen dem finnischen Traditionshersteller und dem weltgrößten Chip-Produzenten Intel. Vollmundig erklärten sie im Februar 2010, sie wollen mit einer MeeGo getauften Software auf Linux-Basis die Branche revolutionieren. Die Reaktionen waren etwas verhalten, da bis auf die Ankündigung nichts hergezeigt wurde. Kein Prototyp, keine Testversion, nur zwei Manager auf einer Bühne, die die theoretischen Vorzüge des Systems lobten. Ob hier wirklich die Antwort auf Apples Dominanz und Googles Vormarsch gefunden wurde? MeeGo startete in eine bange Zukunft.

Akt zwei begann rund ein Jahr später. Ein neuer König war auf den Thron des Nokia-Reichs gestiegen. Sein Dekret lautete: Wir brennen und müssen ins kalte Wasser springen. Und er beschwörte den "Krieg der Ökosysteme" herauf. Wenig später begann die erste große Feuerwehr-Aktion des Stephen Elop. Er kündigte eine Partnerschaft mit Microsoft an. Nokia-Smartphones sollen in Zukunft mit Windows Phone ausgeliefert werden, das bisher forcierte Symbian werde ausgelagert und nur noch auf Einsteigergeräten genutzt. Ein Aufschrei ging durch die Riege der zahlreichen Nokia-Fans. In einem Akt von Majestätsbeleidigung wurde Elop öffentlich vorgeworfen, ein "trojanisches Pferd" von Microsoft zu sein. Immerhin hatte der Kanadier mehrere Jahre dort die Office-Sparte geleitet. MeeGo wurde von Nokia nur noch in einer Randnotiz erwähnt, als Plattform für die Erforschung "zukünftiger Umbrüche".

Fazit: Vorhang. Höflichkeitsapplaus.

Nun beginnt der dritte und letzte Akt. Das N9 ist auf dem Markt und will Kunden für sich gewinnen. Das wird es wohl auch, denn es bietet ein erfrischendes Bedienkonzept gepaart mit solider und ansehnlicher Hardware. Dennoch werden es die Kunden Nokia oder den Mobilfunkern nicht aus den Händen reißen. Das liegt vor allem an Nokias Aufgabe des MeeGo-Betriebssystems. Zwar predigt der Hersteller immer, es werde Unterstützung bis 2015 dafür geben. Was genau das aber heißt, wird nicht verraten. Das magere App-Angebot im Nokia Store spricht eine deutliche Sprache darüber, was Entwickler von Nokias Aussage halten.

Übrig bleibt ein Smartphone, das man gerne empfehlen möchte, weil es enormes Potenzial hat und mit pfiffigen Ideen punkten kann. Im Vergleich zum früher forcierten Symbian ist MeeGo eine absolute Wohltat. Wäre das N9 vielleicht vor einem Jahr erschienen, würde es jetzt nicht so viele Cassandra-Rufe für Nokias Zukunft geben. Aber aufgrund von diversen Ungereimtheiten und der de facto nicht vorhandenen Zukunft der Plattform bleibt ein schales Gefühl zurück und die Empfehlung im Hals stecken. Aus der Hand geben möchte man das Nokia N9 zwar nur ungern. Sobald man aber die umfangreicheren Möglichkeiten anderer Smartphone-Systeme wieder nutzt, hält sich die Wehmut dann doch in Grenzen.

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