USA: Auftrieb für die Wall-Street-Proteste

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In New York und im ganzen Land gewinnt die kapitalismuskritische Bewegung an Dynamik. Sie schwappt bereits ins Ausland. Für Samstag ist ein weltweiter Aktionstag geplant, darunter in London, Hamburg und Wien.

New York. Über Nacht rieselte leichter Regen auf die Schlafsäcke und Zeltplanen, an Nachtruhe war im Zuccotti Park in Manhattan angesichts der morgendlichen Deadline für eine Säuberungsaktion mit Hochdruckreinigern aber ohnehin nicht zu denken. Eine Putzbrigade hatte Stunden zuvor das Kommando übernommen. Sie nahm die Reinigung selbst in die Hand. Freiwillige schrubbten und fegten die Steinplatten, schafften den Müll beiseite und entfernten den Unrat.

In den frühen Morgenstunden des Freitag war die Menge der Demonstranten im New Yorker Finanzdistrikt bereits so angeschwollen, dass der enge Streifen inmitten einer Wolkenkratzerschlucht zwischen Broadway und Ground Zero schier überquoll. Die Menge wappnete sich für die angekündigte zeitweise Räumung des Parks durch die Polizei, die sich anschickte, der von den Eigentümern, der Immobilienfirma Brookfield, angeordneten Großreinigung zum Durchbruch zu verhelfen.

Abgesagter Showdown

Die Demonstranten schworen zivilen Widerstand. Trotz gegenteiliger Zusagen des New Yorker Bürgermeisters, Michael Bloomberg, witterten manche nach vier Wochen eine Auflösung der Proteste. Schlafsäcke und Zelte seien nach der Rückkehr nicht mehr gestattet, hieß es aus dem nahen Rathaus. „Sie wollen uns zum Schweigen bringen“, lautete der Tenor der Anti-Wall-Street-Aktivisten.
Zum Showdown im Morgengrauen, zur befürchteten Konfrontation, kam es indes nicht. Eine halbe Stunde vor dem Ultimatum um sieben Uhr früh gab die Polizei vorerst Entwarnung: Die Säuberungsaktion war aufgeschoben, die Demonstranten verfielen in Jubel. Eine Band stimmte beschwingte Marschmusik an, Hunderte, ja Tausende zogen in Siegesstimmung zur Wall Street. Barrikaden hielten sie freilich kurz vor Börsenbeginn von ihrem Ziel ab, und es gab dann doch da und dort Auseinandersetzungen mit Polizisten.

Proteste auch in Wien

Manche Demonstranten hatten Besen dabei. „Hier liegt doch der ganze Dreck, hier müsste man kehren“, brachte einer die kapitalismuskritische Entrüstung einer Bewegung auf den Punkt, die für Samstag zum weltweiten Aktionstag aufrief. Ausländische Prominente wie Polens Ex-Präsident Lech Walesa, Symbol der Solidarnosc-Proteste der 1980er, bekundeten Solidarität. Nach einem eher zaghaften Beginn gewinnt diese „Occupy“- Bewegung an Dynamik. Vom Epizentrum im New Yorker Bankenviertel verbreitet sich der Unmut auf weitere Städte und Colleges in den USA und erreicht das Ausland. Samstag soll es in mehr als 900 Städten „Occupy“-Aktionen geben, darunter in London, Hamburg, Kopenhagen und Wien.

Auftakt in Neuseeland und Australien

Den Auftakt für die globalen Proteste von Kapitalismuskritikern haben Demonstranten in Neuseeland und Australien gemacht. Beide Länder brachten am Samstag den Ball für die Demonstrationen ins Rollen, die im Tagesverlauf in Städten wie London, Frankfurt, Berlin, Wien, Washington und New York ihre Fortsetzung finden sollten. In der größten Stadt Neuseelands, in Auckland, versammelten sich Hunderte auf den Straßen, um gemeinsam zur Hauptkundgebung mit rund 3000 Teilnehmern zu ziehen. Etwa 200 Demonstranten kamen in der Hauptstadt Wellington zusammen.

In Sydney protestierten rund 2000 Menschen - darunter zahlreiche Ureinwohner Australiens - nach dem Vorbild der Anti-Wall-Street-Bewegung in New York vor der Notenbank Australiens. 

In New York wollen die Demonstranten ihre Camps ausweiten: Sie haben den Battery Park mit Blick auf die Freiheitsstatue, den Washington Square Park und den Tompkins Park – Kultstätten der Hippie-Bewegung – im Visier. Das Bullen-Denkmal am Broadway, Symbol für die Börsen-Hausse und begehrtes Fotoobjekt, hat die Polizei vorsorglich abgeriegelt.

Marsch zu Milliardären

Während an der Wall Street nach der Prognose einer Behörde womöglich in Kürze 10.000 Angestellte vor der Entlassung stehen, marschierten die Demonstranten – die vorgeblich 99 Prozent des Volkes repräsentieren – Mitte der Woche diszipliniert in Zweierreihen zu den Nobeldomizilen von Milliardären an Manhattans Upper East Side, unweit des Central Park: vorbei an Rupert Murdochs dreigeschoßigem Apartment an der Fifth Avenue hin zur konservativen Galionsfigur David Koch – einem Sponsor der Tea Party – und Jamie Dimon, Chef der Investmentbank JP Morgan Chase.
Bürgermeister Bloomberg, selbst Milliardär, verurteilte die antikapitalistische Stoßrichtung und monierte einen negativen Effekt für den Tourismus. Am Zuccotti Park intonierte derweil ein Saxofonspieler einen Schwanengesang – eine zerdehnte US-Hymne.

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