Israel: Geschichte der palästinensischen Gefangenen Nr. 473

(c) AP (Majdi Mohammed)
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Sie ist die Nummer 473 auf der Liste der palästinensischen Häftlinge: Auch Ahlam Tamimi soll im Gegenzug für den israelischen Soldaten Schalit freikommen. Sie half bei Anschlag mit, bei dem 15 Menschen starben.

Es ist Nummer 473 auf der Liste der palästinensischen Häftlinge, die im Tausch für den israelischen Soldaten Gilad Schalit freikommen sollen, die Shvuel Schijveschuurder keine Ruhe lässt. Am 9. August 2001 verlor er seine Eltern und drei Geschwister, das kleinste zwei Jahre alt, bei einem Bombenattentat.

Nummer 473 auf der Liste ist Ahlam Tamimi. Sie hatte den Attentäter von Ramallah nach Jerusalem gebracht und vor dem Sbarro-Restaurant abgesetzt, wo er sich kurze Zeit später in die Luft sprengte. 15 Menschen starben. 130 wurden verletzt. Im Obersten Gerichtshof ließ Schijveschuurder seiner Empörung über die bevorstehende Entlassung freien Lauf.

„Hänge eine schwarze Fahne über dein Haus in Mitzpe Hila“, rief er Noam Schalit, dem Vater der israelischen Geisel zu, „denn heute ist ein Tag der Trauer.“ Bis in die Abendstunden berieten die Richter über die Anträge wider den Geiselhandel, obwohl von vornherein klar war, dass sie an der politischen Entscheidung nichts ändern würden.

In Nabi Saleh, dem Heimatort Tamimis, etwa 30 Kilometer nördlich von Ramallah, steht derweil das Festzelt schon bereit. Eine Woche lang soll die Entlassung von drei Dorfbewohnern gefeiert werden, die allesamt der Familie Tamimi angehören. Ahlam darf zwar nicht nach Hause, sie wird nach Jordanien abgeschoben. Trotzdem hängt ihr Bild zusammen mit dem ihrer Cousins Nisar und Ahmad an der Wand neben dem Festzelt. Während des Krieges 1967 flohen die Eltern Ahlams nach Jordanien. Erst Ende der 90er-Jahre kehrte die Familie zurück, wobei sie bis heute keine ordentlichen Papiere für das Westjordanland hat. Auch deshalb muss Ahlam nach Jordanien.

Im Gefängnis geheiratet

„Sie ist eine witzige Frau“, wird sie von Mahmud Tamimi beschrieben, einem weiteren Cousin, „außerdem klug und charismatisch.“ Er lernte sie während eines Besuchs bei ihren Eltern in Jordanien kennen, als sie kurz vor dem Abitur stand. „Damals hing nur ein Bild in ihrem Zimmer, das von Nisar.“ Der saß damals schon im Gefängnis. Zusammen mit zwei Mitgliedern einer Fatah-nahen Terrorgruppe hatte er versucht, einen Siedler zu entführen. Als der Israeli seine Waffe zog, erstach ihn einer der drei Terroristen. Mahmud will nicht sagen, ob es sein Bruder war. Für ihn ist er bis heute ein Held. Genau wie für Ahlam, die sich in Nisar verliebte und ihn noch während ihrer Haftzeit heiratete.

Nur dreimal haben sich die Eheleute sehen können, das letzte Mal im Gefängnis, durch eine Glaswand getrennt. Auch auf absehbare Zeit werden sie nicht zusammenkommen, denn für entlassene Häftlinge gelten strenge Reisebeschränkungen und Ahlam Tamimi darf vorläufig sicher nicht einreisen.

Zum Zeitpunkt des Attentats war sie gerade 20 Jahre alt, stand im letzten Semester an der Bir-Zeit-Universität im Westjordanland, wo sie Journalismus studierte und Vertreterin der gemäßigten Fatah in der Studentenschaft war. Erst nach Beginn der Intifada im September 2000 sei sie radikaler geworden, berichtet Cousin Mahmud. „Sie dachte, dass reden nicht reicht.“ Die Hamas rekrutierte die junge Frau, die damals schon für einen lokalen Fernsehsender arbeitete.

Als jüdische Touristin getarnt

In Jerusalem gab sie sich als jüdische Touristin aus und fiel niemandem auf. Erst eineinhalb Monate nach dem Attentat wurde sie verhaftet. „Sie hat niemanden getötet“, sagt Mahmud, „nur bei der Organisation hat sie geholfen.“ Verantwortlich für den Tod der Menschen im Sbarro-Restaurant sei nicht Ahlam, sondern die israelische Besatzungspolitik. „Sie sind in ein Land gekommen, das nicht ihnen gehört.“ Dass seine Cousine den militanten Kampf gegen Israel wieder aufnehmen könnte, glaubt Mahmud allerdings nicht. „Sie hat genug für die Palästinenser geopfert.“

Ahlams deutlich ältere Schwester Iftichar, die in Nabi Saleh verheiratet ist, glaubt hingegen nicht so fest daran, dass der Kampf vorbei ist. „So lange die Besatzung andauert, ist es immer möglich, dass sie ihre Operationen fortsetzt“, sagt die 51-Jährige, die trotzdem darauf hofft, dass ihre jüngste Schwester nun sesshaft wird. „Sie wird versuchen, in Jordanien eine Stelle als Journalistin zu finden“, sagt sie. Früher oder später werde dann auch Nisar zu ihr kommen können.

Zweimal monatlich durfte Iftichar ihre Schwester besuchen, die erst im Gefängnis fromm geworden sei. Dort habe sie Zeit gehabt, über sich nachzudenken. Iftichar ist der Hamas dankbar, dass sie Ahlam freigepresst hat, trotzdem werde sie in Zukunft weiter die Fatah wählen. „Nur weil meine Schwester der Hamas angehört, heißt das noch lange nicht, dass ich genauso denke“, lacht sie. „Es bringt uns nicht näher zur Hamas“, sagt auch Mahmud, der dennoch einräumt, dass „die Methode erfolgreich war“.

Keine einzige Hamas-Fahne

Das Dorf steht mit deutlicher Mehrheit der Fatah nahe. Ein riesiges Bild des verstorbenen Jassir Arafat als noch junger Parteichef hängt neben dem Festzelt, während es keine einzige grüne Hamas-Flagge gibt. Der Tenor unter den Bewohner ist klar bewundernd für den Erfolg des Geiselhandels. Trotzdem werde man vorläufig an gewaltlosem Widerstand festhalten. „Wenn es mit dem Frieden nicht klappt“, resümiert Mahmud Tamimi, „gibt es immer noch andere Optionen.“

Auf einen Blick

Bei einem Gefangenenaustausch sollen in den nächsten Tagen 1000 in Israel inhaftierte Palästinenser freikommen. Die radikal-islamische Hamas lässt dafür den 2006 in den Gazastreifen entführen israelischen Soldaten Gilad Shalit frei. Bereits am Sonntag wurde ein erster Schub von 430 Palästinensern in den südisraelischen Negev gebracht, in die Nähe der Grenze zum Gazastreifen. Es ist nicht der erste Austausch von Gefangenen, diesmal lässt Israel allerdings auch zahlreiche Palästinenser frei, die in Anschläge verwickelt waren und zum Teil zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden waren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2011)

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