Fasslabend: "Missbrauch noch allgegenwärtig"

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Martina Fasslabend von der Kinderschutzorganisation „möwe“ kritisiert die mangelnde Ausbildung bei Pädagogen und warnt vor subtiler Gewalt, die nicht erkannt wird.

Wien. Nach den Berichten über systematische Misshandlungen und Vergewaltigungen im früheren Kinderheim Schloss Wilhelminenberg fordert Martina Fasslabend, Präsidentin der Kinderschutzorganisation „die möwe“, eine verpflichtende Kinderschutz-Ausbildung für Pädagogen und Erzieher. Übergriffe dieser Art könnten sich jederzeit wieder ereignen, wenn man das typische Verhalten von Kindern, die Opfer von körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt wurden, nicht erkenne.

Lückenlose Aufklärung

„Subtiler Missbrauch an Schutzbefohlenen ist allgegenwärtig und wird sich in Zukunft zu einem der ganz großen Probleme der Gesellschaft entwickeln“, betont Fasslabend. „In meinen Augen geht es im Fall Wilhelminenberg zunächst um Aufklärung – und zwar lückenlose Aufklärung. Mindestens genauso wichtig ist aber, dass wir Derartiges künftig verhindern.“

In dem Heim seien damals Personen als Erzieher eingesetzt worden, die weder ausreichend ausgebildet noch persönlich für diese Funktion geeignet waren. „Das ist auch heute noch immer wieder der Fall“, kritisiert Fasslabend. Daher sei eine entsprechende Schulung unerlässlich.

„Das spezifische Verhalten von Tätern und Opfern kann man nicht erkennen und richtig deuten, wenn man darin nicht gründlich ausgebildet wurde“, sagt Fasslabend. „Aber eine solche Ausbildung wird in Österreich nicht angeboten, da es bei den Verantwortlichen kein Bewusstsein für die Bedürfnisse von Kindern gibt.“ Kinder würden ständige Nähe, Anerkennung, Liebe und Zuspruch benötigen. „Diesen dringenden emotionalen Bedürfnissen werden aber weder die Eltern noch die Erziehungspersonen in Schulen und pädagogischen Einrichtungen gerecht.“

Durch Ablenkungen wie das Internet und multifunktionale Handys komme es zunehmend zu einer emotionalen und seelischen Verwahrlosung von Kindern. „Was zur Folge hat, dass man die unbewussten Hilferufe von Missbrauchsopfern nicht erkennt und daher auch nicht reagieren kann.“ Denn obwohl von Gewalt betroffene Kinder in den seltensten Fällen konkret von Übergriffen berichteten, würden sie sehr wohl mehr oder weniger deutliche Signale aussenden. „Die Kunst ist, diese zu bemerken und unverzüglich zu handeln.“

Typische Signale von Opfern

Ein wiederkehrendes Signal sei beispielsweise, dass sich Kinder zurückziehen und zunehmend ruhiger werden. „Oder dass sie immer wieder Bauchschmerzen bekommen, obwohl Ärzte keine Ursache für die Beschwerden finden.“ Oft würden sich diese Symptome über Jahre ziehen und in schwere körperliche Krankheiten wie etwa Magersucht ausarten. „Um dahinter eine massive psychische Verletzung zu vermuten, braucht es ein fundiertes pädagogisches Wissen und eine Sensibilisierung auf typisches Opfer- und Täterverhalten“, so die „möwe“-Präsidentin. „Und weil es an solchem Wissen mangelt, werden diese Signale nicht gesehen und der Missbrauch nicht verhindert.“

„Behörden waren hilflos“

In dieser mangelnden Ausbildung sieht Fasslabend auch den Grund darin, dass die Misshandlungen am Wilhelminenberg trotz konkreter Hinweise nicht schon viel früher aufgedeckt wurden. Sie jedenfalls halte die Missbrauchsvorwürfe auch in dieser Dimension für „absolut möglich“. „Das war die Zeit der schwarzen Pädagogik, und in sich geschlossene Systeme wie jenes am Wilhelminenberg haben gewalttätige Übergriffe begünstigt“, erklärt Fasslabend. „Dass die Behörden nicht schon früher tätig wurden, überrascht mich nicht wirklich.“ Sie führe ihr Fehlverhalten auf ihre Hilflosigkeit und ihr „Unwohlbefinden in diesem Zusammenhang“ zurück. „Natürlich wussten die Verantwortlichen um das Unrecht, das in den Heimen geherrscht hatte. Aber sie waren mit dem gesellschaftlichen Tabuthema sexueller Missbrauch überfordert, wussten nicht, wie sie mit den Opfern und Tätern umzugehen hatten.“ Schon gar nicht hätten sie abschätzen können, welche Folgen die Misshandlungen für die Kinder haben würden. Heute sei man da viel weiter, „weswegen Missbrauch in dem Ausmaß von jenem am Wilhelminenberg hoffentlich bald der Vergangenheit angehört“, sagt Fasslabend. Aber „subtiler sexueller Missbrauch“ werde die Gesellschaft auch in Zukunft immer wieder beschäftigen. „Und zwar so lange, bis wir sämtlichen Erziehungsbeauftragten eine umfassende Aus- und Fortbildung ermöglichen.“

Auf einen Blick

Missbrauch im Heim. Seit dem Bekanntwerden von Missbrauchsvorwürfen zweier ehemaliger Zöglinge gegen Erzieher des Wiener Kinderheimes am Schloss Wilhelminenberg, stehen die Behörden im Kreuzfeuer der Kritik. Ihnen wird vorgeworfen, nicht gehandelt zu haben, obwohl es bereits zuvor Hinweise auf Misshandlungen in Heimen gab. Die beiden Frauen waren am Sonntag an die Öffentlichkeit gegangen und berichteten von Kinderprostitution und Serienvergewaltigungen.

Der zuständige Stadtrat Christian Oxonitsch (SPÖ) berief daraufhin eine externe Kommission ein, die die erhobenen Vorwürfe unter die Lupe nehmen soll. Diese Kommission soll heute, Freitag, präsentiert werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2011)

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