Der Geist soll zurück in die Flasche

Geist soll zurueck Flasche
Geist soll zurueck Flasche(c) EPA (MARCTIRL)
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Entsteht aus der Occupy-Bewegung eine neue außerparlamentarische Opposition? Könnte diese die Politik dazu ermutigen, das verlorene "Primat über die Wirtschaft" wiederzuerlangen?

Ich möchte hier nicht wagen zu prophezeien, ob sich das zu etwas Gemeinsamem und Dauerhaftem verbindet, was da diesseits und jenseits des Atlantik oder sogar in einigen arabischen Staaten in Gang kommt, von den „Indignados“ in Madrid und „Occupy Wall Street“ über „Occupy Frankfurt“ bis „Occupy Brüssel“ am kommenden Wochenende, passend zum G-20-Treffen. Aber was es zumindest für die Politik im eigenen Blickfeld bedeuten könnte, kann man doch schon erahnen.

Zu den wertvollsten Ressourcen sozialer Bewegungen zählt die Erinnerung, schrieb der erfahrene Washingtoner Professor, Norbert Birnbaum, ein Linksintellektueller nach unseren Maßstäben, jüngst in einer Kolumne über „Occupy Wall Street“. Dieses soziale Gedächtnis lehre, dass Geschichte sich nicht wiederhole, wohl aber, dass man daraus lernen kann. In den USA erinnere der Protest viele an den New Deal und die Jahrzehnte nach dem Börsenkrach von 1929, als die Wirtschaft stärker reguliert wurde, ein Großteil der Arbeiterschaft sich Gewerkschaften anschloss und die Ansprüche sowie das Selbstbewusstsein der Bürger wuchsen. Daran müsse man die „Neuen“ messen.

Das soziale Gedächtnis hierzulande weist nicht zurück auf den New Deal, aber auf die APO (außerparlamentarische Opposition, Anm.).Geleitet, ja gesteuert werde die Politik vor allem von ökonomischen Kräften und Interessen, die sich dem Einfluss von Regierung, Parlament und Parteien weithin entzögen. Politik, lautete die Kritik, komme von oben, sie lade nicht zur Mitsprache ein. Den Attackierten machte dieser Protest samt Kritik an der Elterngeneration oft Angst. Aber Willy Brandts SPD rang sich 1968/69 dennoch zu einer Öffnung durch und lud die APO, zeitweise mit Erfolg, zum Marsch durch die Institutionen ein. Ende der 1970er-Jahre brandete eine neue Protestbewegungen auf, Helmut Schmidts sozialliberale Koalition vermochte sie nicht länger zu integrieren, aus den Basis- und Protestbewegungen kristallisierten sich die Grünen heraus.

Nun verfügen auch die Grünen nicht mehr voll über diese Integrationskraft, wie es aussieht, und auch nicht die Linkspartei. Anders als zu Zeiten der APO sieht sich die Politik insgesamt jedoch augenfällig bemüßigt, sich mit den Protestierenden zu solidarisieren. Wer bekundet nicht alles tiefstes „Verständnis“. Schäuble, Trichet, Brüderle, Draghi, alle können sie nachvollziehen, wenn Tausende auf den Straßen vor der Frankfurter Börse oder dem Berliner Kanzleramt ihrem Zorn Luft machen, weil die Politik sich anonymen „Märkten“, Rating-Agenturen oder Bank-CEOs beuge.


Glückwunsch vom Erzfeind. Eine Schlagzeile wie die der „Financial Times Deutschland“ („Politik stützt Wall-Street-Gegner“) hätte man sich noch vor wenigen Wochen nicht träumen lassen. In der „Welt“, dem Blatt des Springer-Verlags, der einst als militanter Erzfeind der Protestgeneration galt, wünscht der – vorzügliche – Amerika-Korrespondent den Demonstranten ausdrücklich von Herzen viel Glück. Der neue EZB-Chef findet, die jungen Menschen hätten „ein Recht darauf, empört zu sein“. Und Wolfgang Schäuble: Die Politik müsse darlegen, dass sie die Regeln bestimme und nicht nur „von den Märkten getrieben“ werde.

Natürlich muss man das nicht alles zum Nennwert nehmen, viel Opportunismus mischt sich darunter. Aber mit dem Vorwurf darf man es sich auch nicht zu einfach machen. In einem Gespräch mit dem „Spiegel“ beispielsweise lässt sich der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel durchaus vernünftig und selbstkritisch darauf ein, ob nicht eine „Epoche zu Ende geht“ und ob seine Partei während der Regierungsjahre nicht selbst zur Entfesselung der Finanzspekulationen beigetragen habe, zu diesem ökonomistischen Geist, den sie heute wieder zurückstecken möchte in die Flasche. Die Politik wickelte sich selber ab. Eine Zeit lang funktionierte es auch, von den Spekulationen profitierten viele, nicht nur die Top-Gewinner, und das beförderte die Selbstsuggestion, dieses Entfesseln sei ohne Einschränkung richtig gewesen.

Zur Re-Regulierung der entregelten Märkte hat die Berliner Politik unter Angela Merkel seit der Lehman-Krise herzlich wenig beigetragen, trotz aller lautstarken Rhetorik darüber, was alles „nie wieder“ geschehen dürfe. Selbst wenn sie gewollt hätte, die Politik hatte ja tatsächlich ihren „Primat“ verloren und das zurückzuerobern, dazu reicht kein vollmundiges Auftrumpfen, so wie es jetzt die Kanzlerin gegenüber US-Präsident Obama macht.

Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, von dem man sagt, er habe sehr viel Einfluss auf die Berliner Politik, schreibt in einer Beilage für die FAZ unter dem Titel „Denk ich an Deutschland“: „Auch wir Banken haben eine Bringschuld.“ Und dann: „Kein Zweifel: Komplexe Produkte und Prozesse erschweren Transparenz und Akzeptanz. Die Regulierung der Finanzbranche stößt auch deshalb immer wieder an Grenzen, weil die Regulierer das zu Regulierende oft nicht mehr durchschauen.“ Ist das Ernst oder Spott? Und wie, bitte, gedenkt er, seine „Bringschuld“ einzulösen? Er war der Erste, der davor warnte, die Banken zu höheren Eigenkapitaleinlagen anzuhalten, damit sich eine Lehman-Krise nicht wiederhole.

Vergleicht man APO I und APO III heute, muss man sagen: Die Rahmenbedingungen sind extrem verändert, der Glaube, dass Politik „führen“ und „steuern“ könne, ist noch viel radikaler entschwunden, sogar in großen Teilen der Politik selbst. Im Ohr habe ich, wie einer der klugen Sozialwissenschaftler, der die Geschichte der kapitalistischen Ökonomie und unserer Marktwirtschaftsordnung blendend analysierte, kürzlich zugleich fatalistisch befand: Nach seiner Erfahrung seien diejenigen, die reguliert werden sollen, immer stärker gewesen als die Regulierer, und er sehe auch nicht, wie sich das ändern könne, zumal unter den globalisierten Verhältnissen. Es sei denn, fügte er hinzu, es gebe hie und da „kleine riots“, Rebellionen also, aber damit möge man ihn bitte nicht zitieren. Und im Ohr habe ich Gerhard Schröder, der mir auf die Frage, ob die Politik nach der Phase der Selbstabwicklung gegen Ende seiner Kanzlerschaft oder unter der Regie der Nachfolgerin den Fuß wenigstens wieder in die Tür bekommen habe, jüngst skeptisch erwiderte: Das allenfalls, mehr aber noch nicht.

Es kann nur helfen, wenn eine neue APO vor Anbiederungen der Politik auf der Hut bleibt, wenn sie aber die Politik darin bestärkt, sich von dem Verlorenen so viel wie möglich zurückzuerobern. Oder wenn sie als Rhetorik entlarvt, was nur Rhetorik ist. Auf Freiwillige, die ihre „Bringschuld“ einlösen wollen, wird man nach allen Erfahrungen nicht wirklich rechnen können.

© Cicero 2011

zum Autor

Gunter Hofmann
geboren 1942.

Deutscher Journalist und Autor der Wochenzeitung „Die Zeit“.

Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie in Frankfurt und Heidelberg.

Bis 2008 Chefkorrespondent der „Zeit“ in Berlin. Davor Korrespondent für die „Stuttgarter Zeitung“ in Bonn.

Publikationen: „Abschiede, Anfänge – Die Bundesrepublik, eine Anatomie“ (2002); „Familienbande. Die Politisierung Europas“ (2005, beide im Verlag Antje Kunstmann)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2011)

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