Im Heim missbraucht: Gezeichnet fürs Leben

Missbrauch ndash gezeichnet fuers
Missbrauch ndash gezeichnet fuers(c) Bilderbox
  • Drucken

Geschlagen, getreten, ausgepeitscht: Franz Josef Stangl war ein Heimkind. Die grausamen Erfahrungen, die er dort gemacht hat, haben sein ganzes Leben verändert. Jetzt spricht er darüber - schonungslos und offen.

Es gebe Tage, an denen er nicht an seine Zeit im Jugendheim Korneuburg denke, sagt Franz Josef Stangl. „An die Erzieher, die mich geschlagen und getreten haben, bis ich bewusstlos war. Die mich aus purer Willkür mit kaltem Wasser duschen und die ganze Nacht lang nicht schlafen ließen. Aber diese Tage sind selten. Und sie liegen weit auseinander.“

Der 59-jährige gebürtige Steirer kam mit 16 in das Landesjugendheim Korneuburg in Niederösterreich und verbrachte dort zwei Jahre, in denen er der Großpalette an Grausamkeiten ausgesetzt war – ehe er wegen „Aussichtslosigkeit“ als unerziehbar entlassen wurde. „Die Erzieher haben uns auf alle erdenklichen Arten misshandelt“, blickt Stangl zurück. „Sie schlugen mir grundlos mit der Faust ins Gesicht, peitschten mich mit Gürteln aus und traten mit voller Wucht in meine Weichteile.“ An den Quälereien hätten sich so gut wie alle Erzieher beteiligt, nicht zuletzt auch der Direktor des Heims. Der brutalste von allen sei der Erziehungsleiter gewesen. „Er genoss es sichtlich, die Angst in deinen Augen zu sehen, ein Tyrann durch und durch“, erinnert sich Stangl, für den Korneuburg nicht die erste Station seiner Anstaltsaufenthalte war.


Sexuelle Übergriffe. Mit fünf Jahren nahm ihn die Fürsorge seiner mit mehreren Kindern überforderten Mutter weg und gab ihn in die Obhut von Pflegeeltern, mit elf kam er in ein Erziehungsheim in Graz und wurde nach nur einem Monat in eine Caritas-Anstalt für schwer erziehbare Kinder in Gleink in Oberösterreich gesteckt, bis er schließlich mit 16 in Korneuburg landete. Über seine Erfahrungen vor Korneuburg schrieb er zwei autobiografische Romane mit den Titeln „Der Bastard. Der Fürsorgezögling“ und „Der Klosterzögling. Die Jugend des Bastards“. Opfer von sexueller Gewalt sei Stangl nie geworden, wenngleich solche Übergriffe in Korneuburg nicht der Seltenheit angehört hätten. „Ob sich Erzieher an Zöglingen sexuell vergangen haben, kann ich nicht sagen“, so Stangl. „Aber unter den Heiminsassen selbst gab es das ständig. Die Erzieher wussten davon und haben nie etwas dagegen unternommen.“ In der Anstalt habe eine permanente Atmosphäre von Angst und Einschüchterung geherrscht. „Es gab nicht einen Funken Vertrauen zu Erziehern.“ Am härtesten habe es immer die jüngeren und schwächeren Jugendlichen getroffen, berichtet Stangl. „Sie wurden nicht nur vom Heimpersonal malträtiert, sondern waren auch den älteren Insassen hilflos ausgeliefert. Wurden von ihnen ebenfalls verprügelt und mussten sie sexuell befriedigen – mit der Hand oder dem Mund.“ Auch Vergewaltigungen könne er nicht ausschließen, obwohl er nie welche beobachtet habe.

„Aber nicht nur die allgegenwärtige Gewalt hat mir den Heimalltag zur Hölle gemacht“, beklagt Stangl. „Wir mussten den ganzen Tag verpflichtend arbeiten – im Garten oder in den hauseigenen Werkstätten. Als Lohn gab es knapp 30 Schilling (zwei Euro, Anm.)pro Monat.“ Als er schließlich mit 18 entlassen wurde, sei er erneut in einem Heim gelandet – diesmal in einem für Haftentlassene. Dort habe er seine kriminelle Karriere notgedrungen fortgesetzt. „Bereits bei meinen zahlreichen Ausbrüchen aus dem Jugendheim bin ich in Häuser eingebrochen, um nach Essen und Geld zu suchen, habe Fahrräder und Kleidung gestohlen. In der neuen Unterkunft ging diese Kleinkriminalität nahtlos weiter.“ Schließlich sei er alkohol- und drogensüchtig geworden und in die Beschaffungskriminalität geraten. „Das war ein Teufelskreis“, beschreibt Stangl seine damalige Lage. „Für Delikte wie Diebstahl und Körperverletzung habe ich fünf Jahre Haft abgesessen, ehe ich mich 1979 aus diesem Sumpf befreit und ein normales Leben begonnen habe.“

Dieses Leben als Hausmeister in einem Studentenheim dauert bis 2006, ehe Stangl durch eine Krankheit gezwungen wird, seinen Job aufzugeben. „Ich leide an fortgeschrittenem Knochenschwund, meine Wirbel sind eingebrochen, sodass ich nicht mehr arbeiten kann“, sagt Stangl. „Seither versuche ich vergeblich, in Pension zu gehen.“ Die Ärzte vermuteten übrigens einen Zusammenhang zwischen dieser Krankheit und den schweren Misshandlungen bzw. der Mangelernährung als Kind und Jugendlicher. Zu beweisen sei das aber nicht. Ebenso wenig ist nachweisbar, dass der Missbrauch im Kindesalter zu einem Lebenslauf geführt hat, der aus den Bahnen geriet. Obwohl ehemalige Heimkinder sehr oft ihr Leben lang unter den Akten des Missbrauchs leiden.

„Die Erstverantwortung für Kinderschutz liegt immer bei den Eltern“, betont Stangl. „Die meisten Kinder, die in Heimen landen, sind schon psychisch auffällig. Und die, die es nicht sind, werden es während es ihres Heimaufenthalts.“ Stangl plädiert dafür, Erzieher besser auszubilden und diesem Berufsstand mehr Mittel zur Verfügung zu stellen. „Viele Heimmitarbeiter, die ich kenne, beschweren sich über zu wenig Geld und zu wenig Personal.“ Wobei sich die Situation zum Glück schon deutlich verbessert habe. „Erst vor Kurzem habe ich mein ehemaliges Heim in Korneuburg besucht und war sehr angetan von der Betreuung, die Jugendliche dort mittlerweile erfahren. „Das ist kein Vergleich zu früher.“


„Ich kann nichts ausschließen.“ Was die aktuellen Missbrauchsvorwürfe im früheren Kinderheim auf dem Wilhelminenberg und in anderen städtischen Heimen angeht, wünscht sich Stangl eine bundesweite, externe Kommission, die die Anschuldigungen unabhängig unter die Lupe nimmt. Die Aufklärung dürfe nicht der Politik überlassen werden. „Sie hat bereits gezeigt, dass sie nicht genug Charakter und Willen hat, um diese Vorgänge aufzudecken.“ Mit der Bestellung der Kommission unter der Leitung von Barbara Helige, der Präsidentin der Liga für Menschenrechte, sei bereits ein wichtiger Schritt getan worden.

Ob er die Dimension des zuletzt berichteten Missbrauchs auf dem Wilhelminenberg für möglich halte? „Ja, ich halte Vergewaltigungen und systematischen Missbrauch bis hin zu Prostitution absolut für möglich“, so Stangl. „Ich will diese Vorwürfe eigentlich nicht glauben, aber nach all den Erfahrungen, die ich gemacht habe, muss ich bekennen, dass ich nichts mehr für ausgeschlossen halte.“

Stationen im Heim

Mit fünf Jahren wurde Franz Josef Stangl seiner Mutter weggenommen und an Pflegeeltern übergeben.

Mit elf kam er in ein Erziehungsheim in Graz und wurde nach nur einem Monat in eine Caritas-Anstalt für schwer erziehbare Kinder in Gleink in Oberösterreich gesteckt.

Mit 16 landete er schließlich im Landesjugendheim in Korneuburg. In jeder Anstalt wurde er Opfer von Missbrauch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

MissbrauchsOpfer nach staatlicher Kommission
Wien

Missbrauchs-Opfer: Ruf nach staatlicher Kommission

Brigitte Lueger-Schuster, Klinische Psychologin an der Universität Wien, spricht mit der Presse über die Wichtigkeit einer staatlichen Kommission und die Folgestörungen bei Missbrauchsopfern.
Missbrauchsvorwuerfe gegen Jugendheim Hartberg
Österreich

Missbrauchsvorwürfe gegen Jugendheim in Hartberg

Getreten, geschlagen und sexuell belästigt - ein früherer Zögling eines Jugendheimes in Hartberg erhebt schwere Vorwürfe gegen den Bürgermeister und Heimleiter Karl Pack. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Wien

Vom Horrorhaus zur Mustereinrichtung

Der "Lindenhof" der Stadt Wien im niederösterreichischen Eggenburg galt als härteste "Endstation" für schwierige Heimkinder. Heute bekommen Jugendliche dort die Chance auf eine Lehre.
Österreich

"Wir mussten wie die Marionetten funktionieren"

Es ist ein Rucksack voller Qualen, den man nie mehr los wird: Eine Salzburgerin erzählt der "Presse am Sonntag", wie das, was sie in 17 Jahren Heimunterbringung mitgemacht hat, bis heute ihr Leben überschattet.
Eine fast heile Welt
Wien

Wohngemeinschaft: Eine fast heile Welt

Heime wie das am Wilhelminenberg gibt es schon seit zehn Jahren nicht mehr. Stattdessen setzt man auf Wohngemeinschaften – und auf neue Werte in der Betreuung: Stärkung des einzelnen Kindes, Respekt und Vertrauen. Selbst wenn die wohlmeinende Pädagogik nicht in allen Fällen als Sieger hervorgehen kann.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.