"Wir mussten wie die Marionetten funktionieren"

Es ist ein Rucksack voller Qualen, den man nie mehr los wird: Eine Salzburgerin erzählt der "Presse am Sonntag", wie das, was sie in 17 Jahren Heimunterbringung mitgemacht hat, bis heute ihr Leben überschattet.

„Ich bin böse und verbittert geworden. Ich wünsche mir nur, endlich in Ruhe leben zu können.“ Wenn Maria S. (Name von der Redaktion geändert) die Geschichte ihres bisherigen Lebens erzählt, dann laufen ihr die Tränen über das Gesicht.

Kaum sind sie weggewischt, wird ihre Stimme laut vor Zorn und Misstrauen. Dann fragt sie ängstlich, ob man das, was sie erzählt, glaubt oder ob man sie für verrückt halte. Die 57-Jährige hat ihre gesamte Kindheit und Jugend in Heimen verbracht und hat dort Dinge erlebt, die ihr bis heute Angst machen. Die Frau war als Baby weggelegt worden. Zum Makel, weder Vater noch Mutter zu kennen, kam noch ihre Hautfarbe: Sie ist das Kind eines farbigen amerikanischen Besatzungssoldaten. Das kleine Mädchen wuchs in verschiedenen Heimen in Wien, Tirol und Salzburg auf. Wenn Maria jetzt von den Missständen im Heim Wilhelminenberg hört, kommt auch ihre eigene Vergangenheit wieder hoch. Sie war nicht dort, aber sie kann sich lebhaft vorstellen, wie es zugegangen ist. „Ich bin mir sicher, dass die Vorwürfe stimmen. Den Opfern hat nur nie jemand Glauben geschenkt“, sagt die Frau aus eigener Erfahrung. Als sie vor bald 20 Jahren mit ihrer von Gewalt geprägten Heimvergangenheit an die Öffentlichkeit ging, wurde sie als Lügnerin beschimpft.

Gewalt unter Kindern. „Seither fühle ich mich verfolgt“, erzählt die zierliche Frau, die in ihrer großen blauen Jacke fast versinkt. In den Heimen hat die Frau ein System der Gewalt und der Repression erlebt. Stockschläge auf das nackte Hinterteil, eiskalte Duschen, Arrest bei Ratten in einem dunklen Keller, harte Strafen für die kleinsten Vergehen. Ob es auch sexuelle Übergriffe gab, dazu will sie nichts sagen. Die Frau schildert aber nicht nur die Gewalt, die von den Erwachsenen ausgegangen ist. Auch unter den Kindern seien Misshandlungen an der Tagesordnung gestanden. „Wenn man den Erziehern schön getan hat, dann war man das Liebkind.“ Und genau diese Liebkinder hätten dann im Namen der Erwachsenen andere Kinder mit Schlägen traktiert. Auch den Kopf in eiskaltes Wasser zu tauchen, sei eine gängige Bestrafungsmethode gewesen, erzählt die Frau der „Presse am Sonntag“. Mit ihrer Hautfarbe und ihrem fremdländischen Aussehen gehörte sie nie zu den Lieblingen, sondern meist zu den Opfern. „Es war wie in einem Gefängnis“, beschreibt sie die Zeit in den Heimen. „Wir mussten wie die Marionetten funktionieren und durften nichts Persönliches besitzen.“ Einen Satz hat sie oft gehört: „Sei froh, dass Du überhaupt leben darfst.“ Mit 17 Jahren bekam das bildhübsche Mädchen ihr erstes Kind, später folgte ein zweites. Die Frau lernte Damen- und Herrenkleidermacherin, übersiedelte nach Salzburg und zog die beiden Söhne allein groß. „Sie sollten anders aufwachsen als ich. Dafür habe ich immer gekämpft“, betont die Frau. Doch die Schatten der Vergangenheit wollen nicht verschwinden. Insgesamt 17 Jahre lang war sie in Psychotherapie, sie wurde schwer krank, hatte zwei Herzoperationen, eckte überall an, wurde, obwohl Österreicherin, als Ausländerin angefeindet und schikaniert.

Schatten der Vergangenheit.
Es gab eine Zeit, da wünschte sie sich nur noch den Tod. Immer wieder gab es Probleme mit Nachbarn, mit Arbeitgebern, mit Vermietern, Ämtern und Gerichten. Sie hat unzählige Delogierungen hinter sich und steht gerade wieder einmal vor der Situation, ihr bescheidenes Zuhause zu verlieren. Dabei wünscht sie sich nur einen Platz, an dem sie in Ruhe leben kann. Doch ein normales Leben sei ihr nicht mehr möglich. „Ich fühle mich bedroht und verfolgt“, sagte die Frau, die sich nur eines wünscht: „Ich brauche jemanden, der auf meiner Seite ist.“ Jemanden, der ihr glaubt, dass sie sich die Schatten der Vergangenheit nicht einbildet, sondern der ihr Glauben schenkt. Denn sie ist überzeugt: „Es gibt viele, denen es so geht wie mir. Man hat uns nur bisher nicht geglaubt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2011)

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