Needham: "Der Kapitalismus hat die USA aufgebaut"

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Ed Needham, Spitzenvertreter von "Occupy Wall Street", rechtfertigt sich im Interview mit der "Presse am Sonntag" für den Mangel an konkreten Zielen seiner Bewegung. Antisemitische Demonstranten verurteilt er.

Sie haben vor fünf Wochen begonnen in New York gegen die Finanzindustrie an der Wall Street zu demonstrieren. Mittlerweile haben Sie auf der ganzen Welt Nachahmer. Hätten Sie das erwartet?

Edward Needham: Wir haben uns schon gedacht, dass unsere Nachricht bei vielen Leuten ankommen wird. Aber dass die Sache solche Dimensionen annimmt, damit konnten wir natürlich nicht rechnen. Ich gebe derzeit 15 bis 20 Interviews jeden Tag, es ist verrückt.

Auf Ihrer Homepage findet sich ein Forderungskatalog, indem zum Beispiel die sofortige Investition von einer Billion Dollar in die US-Infrastruktur gefordert wird. Das würde einen Anstieg des Defizits um acht Prozentpunkte bedeuten, weitere Herabstufungen der Kreditwürdigkeit würden auf der Stelle folgen, die Wahrscheinlichkeit eines US-Bankrotts stiege enorm.

Dieser Forderungskatalog ist die Meinung eines Mitglieds. „Occupy Wall Street“ als Ganzes muss seine Ideen nicht notwendigerweise gutheißen.

Warum nehmen Sie solche Forderungen dann nicht von Ihrer Homepage?

Weil bei uns jeder sagen darf, was er denkt. Maulkörbe gibt es bei uns nicht.

Auch die Forderung, alle Grenzen zu öffnen, damit sich „die Menschen endlich frei bewegen können“ ist auf Ihrer Homepage zu finden. Wie soll denn das funktionieren?

Wie gesagt, bei uns kann jeder sagen, was er denkt. Klar ist, dass es nicht so wie bisher weitergehen kann. Das oberste Prozent der Gesellschaft dominiert alles. Die Macht der Banken ist viel zu groß. Wir sind die 99 Prozent, wir werden ausgebeutet und wir fordern, dass sich endlich etwas ändert.

Wogegen Sie sind, ist mittlerweile ziemlich klar: Gegen die Banken, gegen die Reichen, gegen das System. Aber wofür sind Sie eigentlich? Was fordern Sie?

Eine gute Frage. Einen offiziellen Forderungskatalog unserer Bewegung gibt es noch nicht. Aber wir haben Arbeitsgruppen gebildet. Eine davon beschäftigt sich zum Beispiel damit, Essen und Trinken zu besorgen. Und eine andere arbeitet an Vorschlägen für eine politische und wirtschaftliche Reform.

Welche Vorschläge können wir von dieser Arbeitsgruppe erwarten?

Es geht darum, die Deregulierung der vergangenen 30 Jahre rückgängig zu machen. Die Märkte müssen besser reguliert werden, den Banken müssen ihre Grenzen aufgezeigt werden. Vor weniger als drei Jahren haben wir den Banken staatliches Geld zugesteckt, damit sie nicht untergehen. Und nun stehen wir genauso schlecht da, die einfachen Menschen haben davon überhaupt nicht profitiert.

Müssten Sie nicht vor dem Weißen Haus und dem Kapitol in Washington demonstrieren? Die Politik war es doch, die die Bail-Outs abgesegnet hat. Genau jenen Politikern wollen Sie nun mehr Macht geben?

Was wir in den vergangenen Jahren gesehen haben, war eine institutionalisierte Verschmelzung von Geld und Politik. Das oberste Prozent kontrolliert nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das Weiße Haus und den Kongress. Wir geben weder Demokraten noch Republikanern die Schuld; weder Bush noch Obama. Es ist das System an sich, das faul ist.

Bleibt die Frage, wie Sie das ändern wollen. Bis wann können wir mit den Ergebnissen Ihrer Arbeitsgruppe für eine politische und wirtschaftliche Reform rechnen?

Der „Civil Rights Act“ von 1964 (der die Rassendiskriminierung abschaffte, Anm.) wurde auch nicht von heute auf morgen beschlossen. Das hat viele Jahre gedauert. Wir haben eine Vollversammlung, die sich zweimal täglich hier am Liberty Square in Manhattan trifft. Daran nehmen in der Regel 1500 bis 3500 Leute teil. Ihnen wird die Arbeitsgruppe verschiedenste Vorschläge präsentieren, dann wird abgestimmt.

Klingt nach einem langwierigen Prozess. Sprechen wir von Wochen? Monaten? Oder Jahren?

Am ehesten von Monaten.

Anstatt konkreter Forderungen sorgen derzeit Videos im Internet für Aufregung, in denen „Occupy Wall Street“-Demonstranten antisemitische Parolen verbreiten. Der jüdischen Gemeinde New Yorks bereitet das „große Sorge“, wie sie vergangene Woche bekanntgab.

Wir distanzieren uns ganz klar von antisemitischen Äußerungen. Unsere Bewegung fordert Gleichheit für alle. Wir sind eine Gruppe, die aus allen Altersgruppen, allen politischen Lagern, allen Hautfarben und allen Religionen besteht. Wir tolerieren keine Diskriminierung, in welcher Form auch immer.

Ihre Demonstranten ziehen mit einem Poster durch Manhattan, das Lloyd Blankfein, den jüdischen CEO von Goldman Sachs, mit einem Messer im Kopf zeigt. Sollten Sie nicht auch eine Arbeitsgruppe gründen, die versucht, so etwas zu verhindern?

Wir können nicht kontrollieren, was andere machen. Wir konzentrieren uns auf unsere Message und das ist uns bislang prächtig gelungen. Wenn einige Verrückte davon abweichen und das in unserem Namen tun, können wir das nicht verhindern.

Wenn Sie sich wünschen könnten, wie die Welt in zehn Jahren aussehen wird: Welches Bild sehen Sie vor sich?

Es ist schwierig, für die ganze Welt zu sprechen. Aber für die USA habe ich auf jeden Fall einen Traum: Nicht mehr ausschließlich Geld sollte die Politik bestimmen. Jeder sollte eine faire Chance erhalten, den amerikanischen Traum auch in Zukunft noch leben zu können. Die aktuelle Krise zeigt uns deutlich, dass das nicht mehr möglich ist. Viele, die einen Job suchen, haben einfach keine Chance.

Soll der Kapitalismus dann nach wie vor das vorherrschende System sein?

Der Kapitalismus hat dieses Land doch aufgebaut, natürlich mit Hilfe der Menschen. Es ist aber wichtig, den Kapitalismus ordentlich zu kontrollieren. Unkontrollierter Kapitalismus entwickelt sich schnell zu einem grauenvollen System, genauso wie unkontrollierter Sozialismus.

Wenn Sie wählen müssten: Kapitalismus oder Sozialismus?

Kapitalismus. Wir müssen das Unternehmertum in den USA auch in Zukunft fördern und unterstützen. Das hat Amerika doch erst so groß gemacht. Es müssen nur Bremsen eingebaut werden, damit das System nicht außer Kontrolle gerät.

Das überrascht mich. Von den Demonstranten in Europa würden wohl nur wenige dem Kapitalismus den Vorzug geben.

Ja, in diesem Punkt liegt nicht nur physisch ein ganzer Ozean zwischen uns.

Ed Needham
ist der Sprecher der US-Bewegung „Occupy Wall Street“.

Der 43-Jährige leitet die PR-Firma Resonance Consulting, die sich auf die Beratung von Non-Profit-Unternehmen spezialisiert hat.

Den Demonstranten an der Wall Street schloss er sich vor einem Monat an. Seine Dienste bietet er unentgeltlich an.

Der zweifache Vater ist im Bundesstaat Maine aufgewachsen. Er betreibt seine Firma aus Cambridge in Massachusetts, will nun aber „solange wie erforderlich“ in New York bleiben, um zu demonstrieren.
Privat

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2011)

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