Wohngemeinschaft: Eine fast heile Welt

Eine fast heile Welt
Eine fast heile Welt(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Heime wie das am Wilhelminenberg gibt es schon seit zehn Jahren nicht mehr. Stattdessen setzt man auf Wohngemeinschaften – und auf neue Werte in der Betreuung: Stärkung des einzelnen Kindes, Respekt und Vertrauen. Selbst wenn die wohlmeinende Pädagogik nicht in allen Fällen als Sieger hervorgehen kann.

Zweiter Stock“, sagt die Kinderstimme in der Gegensprechanlage. Und kichert. Dieses Kichern begrüßt einen gedämpft im Stiegenhaus und begleitet einen die Stiegen hinauf. Ein bisschen deutlicher im ersten Stock, ziemlich laut im zweiten Stock. Hinter der Wohnungstür schwillt es zu einem Crescendo, um dann, auf zwei Beinen, hinter einer Zimmertür zu verschwinden, die schnell zugemacht wird. Ein bisschen zu schnell. Knall, bumm, kicher, kicher. „Die ist zu“, sagt Stefan Linsker (39). „Sie sind ein bisschen aufgeregt.“

„Sie“ darf man nicht bei ihren richtigen Namen nennen. Denn „sie“ sind acht Kinder in „Fremdunterbringung“. So nennt der Behördensprech heute, was früher, gerne auch abwertend, „Heimkinder“ hieß. Die neue Bezeichnung ist allerdings nicht der einzige Unterschied zu einer Zeit, in der der Begriff „Kinderheim“ den Rang einer Drohung hatte. Denn große Anstalten wie das Heim am Wilhelminenberg, das derzeit für Schlagzeilen sorgt, gibt es in Wien schon lange nicht mehr. Der viel wichtigere Unterschied aber ist, dass sich die Einstellung gegenüber Kindern aus problematischen Verhältnissen in den letzten Jahren völlig verändert hat. Verständnis löste Strafen ab, individuelle Ermächtigung ersetzte kollektives Kleinhalten. Die allerwichtigste Neuerung aber ist eine kleine, feine und manchmal ziemlich laute: Es wird gekichert.

Seit mittlerweile zehn Jahren ist das flächendeckende System solcher Wohngemeinschaften in Wien die Norm. In der Bundeshauptstadt gibt es 85, die von der Gemeinde gemanagt werden; dazu kommen 40, die private Anbieter wie SOS-Kinderdorf für die Stadt betreuen. Diese Dezentralisierung sorgt unter den Anrainern nicht nur für ungeteilte Freude. Bei Luis Feuerstein im Dezernat 6 für die Fremdunterbringung von Kindern ist ein Mitarbeiter nur damit beschäftigt, ununterbrochen neue Wohngelegenheiten zu suchen. „Bei uns gibt es eben auch schlimme Kinder, die schlimme Dinge tun. Und das hält die Umgebung nur begrenzt aus“, sagt Feuerstein.

Die Wohngemeinschaft, in der Stefan Linsker arbeitet, hat auch ihre Querelen mit den Nachbarn, mittlerweile aber hat man sich auf einen manchmal etwas zähneknirschenden Burgfrieden geeinigt. „Nicht alles, was im Haus angestellt wird, sind die WG-Kinder“, sagt Linsker. „Umgekehrt, wenn sie für etwas verantwortlich sind, müssen sie auch dazu stehen. Sie werden auch später mit ihren Nachbarn gut auskommen müssen.“

Soziales Lernen in der Wohnküche. Das ist die Art von praktischer sozialer Erfahrung, die die vier Buben beziehungsweise Burschen und die vier Mädchen jeden Tag machen. Jeweils zwei Kinder teilen sich ein Zimmer in der WG, sortiert nach Alter und Geschlecht. Das jüngste Kind ist neun, der älteste 17. Das Herz der Wohnung ist die Wohnküche, in der man sich zum gemeinsamen Frühstück und zum Abendessen trifft. Davon abtrennen lässt sich ein Wohnzimmer mit Fernseher und Wuzzler.

Betreut werden die Kinder von vier Sozialpädagogen, die jeweils einen 24-stündigen „Tourendienst“ schieben. Dazu kommen Springer, die am Nachmittag mitanpacken, der wichtigsten Zeit des Tages. Dann kommen die Kinder aus der Schule nach Hause, brauchen Hilfe bei den Hausaufgaben oder einfach Ansprache. Die für die Kinder zentralste, weil beständigste Person ist aber wahrscheinlich die Wirtschaftshelferin, die von Montag bis Freitag jeweils acht Stunden vor Ort ist, dadurch viele Entwicklungen mitbekommt und gerne von den Kindern ins Vertrauen gezogen wird.

Gedacht sind diese Wohngemeinschaften vor allem für Kinder zwischen sechs und 15 Jahren. Bei kleineren Kindern hat sich der regelmäßige Wechsel der Bezugspersonen als problematisch herausgestellt – weshalb es immer wieder Kampagnen für mehr Pflegeeltern gibt.

Soweit das organisatorische Gerüst mit seinem leicht institutionellen Beigeschmack. Der Alltag in der Wohngemeinschaft fühlt sich allerdings etwas anders an, wärmer, lebenslustiger. An der Wand hängen Urlaubsfotos von den Kindern, „Blödelfotos“ mit ihren Betreuern, an der Eingangstür kleben die Stundenpläne. Das Vorzimmer ziert ein großflächiges Wandgemälde in knalligen Farben – gelb, orange, rot. Gemalt hat es Sibil. „Ich bin nicht ganz zufrieden damit“, sagt sie. „Der Rand gefällt mir schon, aber das in der Mitte, das würde ich heute anders machen.“

»Man kann immer offen reden.« Die selbstbewusste 15–Jährige würde in der Rückschau vielleicht so manches anders machen. Seit eineinhalb Jahren lebt sie jetzt in der Wohngemeinschaft und hat in der Zeit offenbar schon einige Einsichten gewonnen. „Bei meiner Mutter hätte ich sicher viel mehr Freiheiten“, sagt sie. „Ich finde es aber gut, dass einem hier immer wieder die Grenzen aufgezeigt werden. Das bringt einen zum Nachdenken, wenn man mal wieder etwas verbockt hat. Egal, worum es geht – hier kann man mit allen offen reden.“

So heil wie diese Welt klingt, ist sie allerdings nicht. Kein Kind kommt ohne Grund in Fremdbetreuung, und das Gepäck, das einige von ihnen in die Wohngemeinschaften mitbringen, wiegt schwer. Wie das von Lorenz. Der Bub lebt seit Jahren, als der erste Verdacht auf Missbrauch aufgetaucht war, getrennt von seinen Eltern. Also durchlief Lorenz die behördlichen Stationen. Da Gefahr im Verzug war, kam er erst in ein Krisenzentrum, wurde dort beobachtet und behutsam befragt. Aus dem Verdacht wurde Gewissheit und Lorenz zog in die WG ein. Dort fand er ein gewisses Maß an Stabilität, seine Geschichte belastet ihn aber bis heute.

Die Sozialpädagogen stecken sich daher ein realistisches Ziel: „Wie können wir ein Kind auf seinem Weg begleiten? Wie können wir ihm das Werkzeug in die Hand geben, um das Leben zu meistern?“ So formuliert es Bettina Terp, Regionalleiterin der sozialpädagogischen Region 3, verantwortlich für 14 Wohngemeinschaften und zwei Krisenzentren.

»Schlechtes Material«. Der Unterschied zu früheren pädagogischen Ansätzen, wie sie in den alten Massenheimen praktiziert wurden, könnte nicht größer sein. Damals galten die Kinder aus schlechten sozialen Milieus nicht als Opfer, sondern als Täter (siehe Artikel unten) – allein schon aufgrund ihrer Herkunft. „Verwahrlosung“ war das Schlüsselwort, verantwortlich gemacht wurden dafür entweder schlechte Erbanlagen, das Geschlecht oder die Schicht, meint der Zeithistoriker Horst Schreiber, der Missstände der Heimerziehung in Tirol aufarbeitete. Ziel der Kinderheime war es, aus dem vorhandenen „schlechten“ Material das beste herauszuholen, was so viel hieß wie alle an eine Norm anzupassen. Bis das erreicht war, sollte die gute, bürgerliche Gesellschaft vor den „bösen“ Kindern geschützt werden – durch möglichst abgeschiedene Heime, die man versperren konnte.

Von diesen Ansätzen ist nichts übrig geblieben. Schlüssel gibt es nur noch in Form der Wohnungsschlüssel – und davon hat jedes Kind einen. Der Kühlschrank steht allen offen, alle bekommen Taschengeld. Die angesagte pädagogische Denkschule sucht den individuellen Zugang zum Kind und versucht, Beziehungen aufzubauen, die von Ehrlichkeit und Vertrauen getragen werden. Und die oft lange nach dem Ende des WG-Lebens weiter bestehen.

Scheitern gehört dazu. Um das durchzuhalten, müssen auch die Sozialpädagogen lernen, auf sich selbst achtzugeben. „Man sollte diesen Beruf nicht ergreifen, weil man armen Kindern helfen will“, sagt Stefan Linsker. „Man sollte es deshalb tun, weil man Menschen mag.“ Diese Nächstenliebe zu erhalten, ist nicht immer einfach. Deshalb durchlaufen alle Sozialpädagogen Supervisionen und sollten „einen hohen Anteil an Selbsterfahrung“ mitbringen (Linsker). Außerdem arbeiten sie nur in 24-Stunden-Schichten. „Das Schlimmste für alle Beteiligten ist, wenn man als hilfloser Helfer endet“, sagt Linsker. Und man muss sich eingestehen, dass man nicht immer Erfolg hat. „Auch wir scheitern“, sagt Bettina Terp.

Die Erfolgsaussichten hängen stark von der Geschichte des Kindes oder des Jugendlichen ab. Schwierige Fälle unter jüngeren Kindern werden intensiver betreut, bis hin zu einem 1:1-Schlüssel. Bei älteren Jugendlichen muss man sich in Realismus üben – vor allem bei jenen, die bereits ins Drogenmilieu oder in die Prostitution abgeglitten sind. Dort brauchen die Betreuer vor allem einen langen Atem und ein Gefühl für kleine Schritte. Den Betroffenen wird versucht, so viel Selbstwertgefühl zu geben, dass sie einen alternativen Lebensweg akzeptieren und sich gegen Dealer und Zuhälter abzugrenzen lernen. Bis dahin geht es vor allem darum, sie wenigstens vor schweren Krankheiten zu schützen.

Umso stolzer sind die Verantwortlichen auf alle, die ihren Weg machen. Nach der Wohngemeinschaft gibt es die Möglichkeit des „betreuten Wohnens“ – entweder in einem Gemeinschaftsverbund oder extern in einer kleinen Wohnung. Auf solch einen Schritt in die Selbstständigkeit bereiten sich derzeit die zwei 17-jährigen Burschen vor, die Linsker betreut. „Sie sind wirklich Vorzeigeburschen“, sagt er stolz. Beide machen eine Lehre, der eine wird Florist, der andere Gärtner.

Die Mädchen in der betreuten Wohngruppe, um die sich Gudrun Wildling und Christoph Schandl kümmern, leben diese partielle Selbstständigkeit bereits. Sie kümmern sich um ihr Essen und um ihre Wäsche, gehen in die Schule, in die Lehre oder zumindest in AMS-Kurse. Rechenschaft über ihr Sozialleben müssen sie keine mehr ablegen, die Sozialpädagogen wollen nur genug wissen, um sicher zu sein, dass keine Gefahr läuft, abzurutschen. Damit auch diese Mädchen, wenn sie 18 werden, sehen, dass das Leben gut sein kann.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2011)

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