Kaum etwas hat sich gesellschaftlich so oft und so gründlich gewandelt wie das Kinderbild. Zu Zeiten der Vorfälle im Heim am Wilhelminenberg ging es vor allem um Gehorsam und Disziplin, um Kuschen und Nicht-Auffallen. Seither wurde alles anders, wenn auch nicht leichter.
Die Geschichte der Kindheit ist eine bunte. Einige Zeit lang wurden Kinder überhaupt nicht wahrgenommen, dann wiederum galten sie als Mini-Erwachsene. Erst relativ spät wurde anerkannt, dass die Kindheit vielleicht doch ein eigener Lebensabschnitt mit ganz besonderen Bedürfnissen sein könnte.
Obwohl der Gedanke spiegelverkehrt anmutet, ist die Idee des Kindes in erster Linie ein soziales Konstrukt und erst in zweiter Linie eine biologische Tatsache. Deshalb konnten die Parameter dessen, was für ein Kind gut ist und wie es infolge behandelt werden muss, auch immer wieder aufs Neue verschoben werden.
Die Zöglinge des Kinderheims am Wilhelminenberg erwischten in diesem ewigen Auf und Ab eine besonders finstere Talsohle. Die vielversprechenden pädagogischen und psychologischen Ansätze, die es zu Anfang des 20.Jahrhunderts gegeben hatte, fielen in Teilen Europas entweder der gesellschaftlichen Ideologie des Nationalsozialismus oder den wirtschaftlichen Folgen des Kriegs zum Opfer. „Die Eltern der 1950er-Jahre waren eine Generation ohne Erziehungsalternativen“, meint Elisabeth Hauser, Pädagogik-Leiterin von SOS-Kinderdorf. Kinder seien damals wenn schon nicht als Gegenstand, so doch als eine Art „Gebrauchsgut“ gesehen worden. Sie wurden benutzt, um Funktionen zu erfüllen und die Bedürfnisse von Erwachsenen zu befriedigen.
Gehorchen muss das Kind. Dieser Bogen sei sehr weit gespannt gewesen: von der Mithilfe im Haushalt und bei der Versorgung jüngerer Geschwister über Verdienstarbeit bis hin zum schlimmsten Fall, dem sexuellen Missbrauch. Bis in die 1960er- und 1970er-Jahre galt für das Verhalten der Kinder ihren Eltern gegenüber ein sehr einfacher Kodex: „Kinder haben den Eltern zu gehorchen. Tun sie das nicht, ist es der Fehler der Kinder.“
Dieser gesellschaftliche Konsens lieferte die Grundlage für die Behandlung jener Kinder, die nicht ordnungsgemäß funktionierten. Diese „schlimmen Kinder“ hatten es doppelt und dreifach schwer. Erstens hatten sie schon gegen die Regel verstoßen, dass Kinder zu gehorchen haben. Zweitens aber kamen sie oft aus schlechten Familienverhältnissen – ein Umstand, der ebenfalls gegen sie verwendet wurde. „Heimkinder“ standen oft unter dem Generalverdacht, an ihrer Situation zumindest eine Mitschuld zu tragen: „Kinder in Heimen galten früher als Täter, nicht als Opfer“, sagt Lukas Feuerstein, verantwortlich für die Fremdunterbringung von Kindern durch die Stadt Wien. „Wenn du nicht brav bist, kommst du in ein Heim“, war in den Sechzigern und Siebzigern eine ebenso gängige wie effiziente Drohung – mit der Implikation, dass man eine solche Konsequenz nur dem eigenen schlechten Verhalten zuzuschreiben hätte.
Diese Mischung aus prekärer sozialer Herkunft und Gehorsamspädagogik machte die „Heimkinder“ besonders verwundbar und begünstigte Missstände in Institutionen in ganz Europa. „Strafe“ stand auf der erzieherischen Werteskala ganz oben, die Ziele waren Disziplin, Kuschen und Normverhalten. Wie man diese erreichte, lag im Ermessen des einzelnen Erziehers. „Viele waren der Meinung, dass das alles im Interesse des Kindes war. Deshalb wurde manchmal auch Dank für Schläge eingefordert“, sagt Hausner.
Das höchste Gut. Seit diesen dunklen Tagen der Schwarzen Pädagogik hat sich das Kinderbild um 180 Grad gewandelt. Nachdem die anti-autoritäre Erziehung das Pendel weit in die andere Richtung schwingen ließ und den Kindern völlig freie Hand gab, folgte eine Phase der Überhöhung des Kindes. Je weniger sie wurden, umso mehr galten Kinder als höchstes Gut, das gar nicht genug beschützt und gefördert werden könne.
Doch auch das war nicht durchzuhalten – und deshalb wird das ideale Bild des Kindes wieder einmal neu modelliert. Viel weniger autoritär als früher. Aber oft genauso dogmatisch.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2011)