Tunis: Islamisten greifen nach der Macht

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Symbolbild(c) REUTERS (ZOHRA BENSEMRA)
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Erste freie Wahlen im Arabischen Frühling: Die gemäßigt-islamistische - unter Ben Ali verbotene - Ennahda-Partei steht vor einem Erdrutschsieg. Werden die Religiösen den Ausgleich mit den Säkularisten suchen?

Tunis. Noch waren die Stimmen der ersten Wahl des Arabischen Frühlings nicht vollständig ausgezählt, da begann vor der Zentrale der islamistischen „Ennahda"-Partei im Zentrum von Tunis bereits die erste kleine Siegesfeier. Denn die Hinweise verdichteten sich, dass die einst verbotene Partei als Sieger aus den neun Monaten nach dem Sturz von Langzeitherrscher Zine el-Abidine Ben Ali abgehaltenen Wahlen hervorgeht.
Ennahda (steht für Aufstehen oder Erwachen und könnte mit „Renaissance" übersetzt werden) rechnete Montag mit bis zu 50 Prozent der Stimmen. Eine Sprecherin der sozialdemokratischen PDP bestätigte den Trend. Vorläufige Resultate wurden für heute Dienstag erwartet. Die Wahlbeteiligung betrug enorme 90 Prozent der 7,1 Millionen Wähler.

In der Parteizentrale der Ennahda in Tunis brachen Frauen in Jubeltaumel aus. Eine davon, Zumaya Ghannouchi, die Tochter des bärtigen 70-jährigen Ennahda-Chefs Raschid Ghannouchi, schlug bewusst keine polarisierenden Siegestöne an: „Wir werden das Erbe der Diktatur antreten und zeigen, dass alle Parteien die Veränderungen bringen, auf die die Tunesier so lange gewartet haben", sagte sie im Gespräch mit der „Presse". Die Wahl sei der erste Schritt zu einer „demokratischen arabischen Welt, in der die Tunesier den Anfang machen und als Modell dienen". „Wir achten die Rechte der Frauen und die Gleichheit aller Tunesier unabhängig von ihrer Religion, ihrem Geschlecht oder ihrer sozialen Herkunft", sagte Parteiführungs-Mitglied Nourreddine Bhiri.

Wolf im Schafspelz?

Obwohl Raschid Ghannouchi am Sturz Ben Alis kaum Anteil hatte und sich auch jetzt zurückhielt, konnte er rasch einen Gutteil des Volkes um seine 1981 gegründete Bewegung scharen. Gleichzeitig spaltet er das Land: Liberale halten den Imam-Sohn, der seit zwei Jahrzehnten im britischen Exil gelebt hatte, für einen Wolf im Schafspelz. Immerhin sieht er sich als massiv islamisch verankert und postuliert, dass kein politisches Konzept als islamisch gelten könne, das außerhalb der Scharia steht. Auch sei die Abkehr vom Islam ein Verrat, der vom Staat zu strafen sei. Demokratie sei ein fragwürdiges Konzept, das gern in Entscheidungslosigkeit und Ambivalenz münde. Die islamistische „Hamas" in Palästina schätzt ihn jedenfalls hoch.

Worte wie „Gottesstaat" nimmt der Vater von sechs Kindern aber heute nicht in den Mund, stattdessen redet er von Meinungsfreiheit. Kritiker fürchten, er würde zu einer „harten" islamischen Meinung zurückfinden, sei seine Bewegung erst am Ziel. Für Amel Grami, Professorin für Islamische Studien, hat der Erfolg der Islamisten mehrere Gründe. Etwa, weil Tunesiens Gesellschaft noch nicht bereit gewesen sei, die politischen Optionen wirklich aufzunehmen. Die Islamisten hätten zudem simple Slogans: „Möchtest du deine Religion verteidigen oder ungläubige Säkularisten wählen?" Zudem sei das Konzept der Moderne von der Diktatur Ben Alis diskreditiert worden.

Aber sie glaubt auch, dass die Islamisten nach dem Feiern schnell auf den Boden zurückgeholt werden: „Wenn du stärkste Partei bist, hast du Verantwortung und musst Entscheidungen treffen, die auch jene respektieren, die dich nicht gewählt haben." Dann könne sich die Ennahda nicht mehr dahinter verstecken, Verteidiger des Islam zu sein, sondern müsse auch mit anderen Kräften Kompromisse aushandeln.

Ein Nimbus ist schnell passé

Außerdem muss die Ennahda ihr eigenes Haus in Ordnung bringen, da die Islamisten mit vielen Stimmen sprechen: Die älteren Generationen sind noch pragmatischer, die jüngeren weit konservativer. Auch unter jenen, die in der Zeit Ben Alis in Gefängnissen saßen, und jenen, die wie Parteichef Ghannouchi im Londoner Exil gelebt haben, gibt es große Unterschiede in der Weltoffenheit. „Die Islamisten werden schnell ihren Nimbus verlieren, in den Gefängnissen von Ben Ali die Gefolterten gewesen zu sein", meint Grami. „Die Leute werden sagen, das ist gut, ihr hattet unsere Sympathien, aber jetzt müsst ihr zeigen, wie ihr dieses Land voranbringt." Und das sei ohne Einbeziehung der anderen politischen Lager praktisch unmöglich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2011)

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