Abwanderung und sinkende Geburten machen Bulgarien zum Extrembeispiel für demografischen Knick in der EU. Längerfristig ist mit Familienpolitik allein in Europa wenig zu retten.
Wucherndes Grün und Erdflecken haben den Asphalt überzogen. Nach Boturtsche schaffen es nur noch Pferdefuhrwerke und robuste Autos. In dem Dorf im bulgarischen Rhodopengebirge, einen Berggipfel von Griechenland entfernt, standen einst massive Steinhäuser inmitten saftiger Wiesen. Heute sind sie in sich zusammengesackt, die Wege zu ihnen haben sich verloren.
Mladen, ein kräftiger Mittdreißiger mit gescheiteltem Kurzhaar und tiefen Furchen auf der Stirn, erinnert sich noch an das andere, frühere Boturtsche. „Es gab einen Laden hier“, erzählt er. „Und eine Schule.“ Später mussten die Schüler ins benachbarte Gugutka ausweichen. Heute gibt es auch dort keine Schule mehr. Sein Sohn besucht das Internat im 40 Kilometer entfernten Iwailowgrad. In Mladens Kindertagen hatte Boturtsche mehrere hundert Einwohner. Heute leben noch sechs Familien hier. Besuch ist selten geworden. Das Handy ist Mladens Verbindung zur Außenwelt.
Boturtsches düstere Dorfchronik ist kein Einzelfall in der abgelegenen Region im Süden Bulgariens. Viele Dörfer sind zu Geisterdörfern geworden, das Land leert sich. In punkto Bevölkerungsschwund führt Bulgarien die EU-Statistik an. 1988 zählte man knapp neun Millionen Einwohner, heute leben 7,6 Millionen Menschen im Land, 2030 sollen es 6,8 Millionen sein. Man schätzt, dass seit der Wende 1989 eine Million Menschen das Land verlassen hat. Zudem hat die Zahl der Todesfälle die der Lebendgeburten überholt: Auf 110.500 Verstorbene kamen 2008 lediglich 77.700 Geburten.
Noch dramatischer ist die Lage in Russland. Dort wird bis 2030 sogar ein Bevölkerungsschwund von neun Millionen erwartet: Von heute knapp 142 auf 133 Millionen Einwohner. Die rückläufige osteuropäische Bevölkerungsbilanz erklärt sich aus mehreren Faktoren: drastisch gefallene Lebenserwartung nach der Wende, krisenbedingter Geburtenrückgang, massive Auswanderung. Verschärfend kommt hinzu, dass Bevölkerungsgewinn durch Einwanderung so gut wie keine Rolle spielt.
Europa fehlen Nachwuchskräfte
Im immer älter werdenden Europa ist Migration ein wichtiger Faktor im Ringen um ausgewogenere Bevölkerungszahlen. Während westeuropäische Länder ihren Arbeitskräftemangel seit den 1960er-Jahren durch gezielte Zuwanderungspolitik vor allem aus Südosteuropa ausgleichen konnten, fehlen in den jungen Demokratien genau jene jungen Nachwuchskräfte, die Dynamik in die Wirtschaft bringen könnten.
Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass in einem Land, in dem Armut zunimmt, die Geburtenzahlen wieder ansteigen, weil die Menschen wieder auf das altbewährte Modell der Kinder als Altersvorsorge zurückgreifen. Demografen stellten fest, dass es gesellschaftlich einen „Point of no Return“ gibt, an dem eine Rückkehr zum Kinderreichtum nicht mehr möglich ist. Hat sich in einem Land einmal das Bewusstsein etabliert, dass in Kinder investiert werden muss, um ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen – dass Kinder also Geld kosten statt Geld zu bringen – gehen die Geburten in Krisenzeiten immer weiter zurück. Bulgarien stagniert zurzeit bei 1,47 Kindern pro Frau.
Österreich: konservative Hemmschwellen
Auch der österreichische Kinder-Mittelwert von 1,41 nimmt sich im Vergleich zu Ländern wie Schweden (1,91), Norwegen (1,96), Frankreich (1,99) und Belgien (1,82) ziemlich bescheiden aus, vor allem wenn man die Regierungsausgaben für Familienpolitik in Betracht zieht.
Österreich teilt ein Problem mit den südeuropäischen Ländern und mit Deutschland: eine immer noch konservative Einstellung zur Mutterschaft kombiniert mit steigenden Karrieremöglichkeiten für Frauen. In Skandinavien wurde bereits in den Sechzigerjahren massiv in Kinderbetreuung investiert. Während in Österreich und Deutschland (männliche) Gastarbeiter den durch den ökonomischen Aufschwung entstandenen Arbeitskräftemangel ausgeglichen haben, schickten die Skandinavier Frauen auf den Arbeitsmarkt. Kinderbetreuung wurde zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit und ist heute selbstverständlicher Teil der Infrastruktur. In Belgien gehen Frauen nach zwei Monaten Karenz wieder arbeiten und geben ihr Kind in die Krippe. In Österreich erntet ein solches Konzept nach wie vor Unverständnis.
Längerfristig ist mit Familienpolitik allein in Europa wenig zu retten. Die Alternative: massive Investitionen in die Bildung von Migranten, Anwerbung von gut ausgebildeten Arbeitskräften, Anhebung des gesetzlichen Pensionsalters. In krisengeschüttelten Ländern wie Spanien und Italien, aber auch im bevölkerungsarmen Bulgarien, ist die Debatte bereits angelaufen. Österreich geht es für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Demografie-Frage offenbar immer noch zu gut.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2011)