Wie lerne ich sterben?

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Vernichtet zu sein ist mir vertraut, ich spüre durch das Dickicht des Daseins hindurch das Ende (von Jugend an). Kumpel Tod, du großer Erneuerer: Du bist sehr wahrscheinlich die beste Erfin- dung des Lebens. – Auf dem Floß. Schwankende Ansichten über den Tod.

Ich glaube (sagte ich, auf dem Floß unruhig auf und ab gehend. Der Fluss war dagegen ruhig, nicht eine Welle war zu sehen. Es war ein heißer Sommertag, und auf der anderen Seite des Ufers war die Wiese von der Sonne grell beleuchtet. Auf das Floß fiel um diese Tageszeit noch der Schatten des Waldes) – ich glaube, wer etwas von der Individualität hält, von der Individualität der Menschen (davon, dass Menschen dadurch wichtig sind, dass sie als Einzelne vorkommen), muss notgedrungenermaßen auch etwas vom Tod halten. Es gibt ja die Möglichkeit – diese Chanceist jedem Einzelnen eingeräumt –, den Todzu hassen und zu sagen: Der Tod nimmt all diesen Versuchen, am Leben gewesen zu sein, die Kraft und am Ende auch den Sinn. Es ist ... irgendwie ... (ich setzte mich an den Rand des Floßes, die Füße baumelten im Wasser, das Wasser war eiskalt) ... durch den Tod, durch den Tod erfolgt eine Nichtigkeitserklärung an alle menschlichen, einzelnen Unternehmungen. Ja, die Gattung lebt weiter und ist anscheinend auf viele Individuen angewiesen, aber des Einzelnen bedarf die Gattung um ihrer selbst nicht (unbedingt). Vielleicht manche Einzelne, die der Gattung außerbiologisch einen historischen Sinn gegeben haben – sie existieren dann weiter im Gedächtnis, sie konstituieren zusammen mit einigen Lebenden einenmenschlichen Zusam-menhang, ganz unsicherer Natur: „die Menschheit“, „die Kultur“.

Angesichts des Todesverschwindet der Einzelne auch aus dem Leben der Gattung – und die Gattung tut weiter wie bisher, als ob ich nicht gewesen wär'. Die Frage nach dem Tod, vor allem die nach dem eigenen Tod, ist eine Variante der Eitelkeit; oder vielleicht besser, sie ist ein Endpunkt der Eitelkeit: Man ist unversöhnlich mit dem eigenen Nichtsein, das man gar nicht denken kann. Aber Denken ist nicht alles: Ich zum Beispiel (sagte ich unter der Sonne) habe den Sinn für die Negation körperlich und geistig eingebaut. Vernichtet zu sein ist mir vertraut, ich spüre durch das Dickicht des Daseins hindurch das Ende (von Jugend an), und ich glaube auch, dass der Tod der anderen, von dem man lernen kann und den man ganz und gar unegoistisch leidend erleben kann, irgendwann erst recht zurückschlägt in die eitle Unversöhnlichkeit mit dem eigenen Nichtsein: Ihr Wegsein macht einem das eigene Wegsein vor. So waswie eine Gattung plaudert ständig aus, dass „alle“ zu ihr gehören, dass bloß du und du und auch du (und auch ich) im Einzelnen fürihren Bestand gar nicht nötig sind. Unnötige Einzelexemplare, denen eh nichts anderes übrig bleibt als die Zugehörigkeit zu ihrer Gattung, die am Ende mehr oder wenig höhnisch signalisiert, auf euch kann man verzichten, ihr seid ersatzlos zu streichen.

Der Tod ist das Geschehen, das sich an Leib und Leben vollzieht, abspielt (ja, dachte ich, das ist eine Banalität, auf die man bauen kann), Sterben ist der Anfang von diesem Schlussakt, der diesen Leib und dieses Leben absolut relativiert. Und was war es doch für ein Leben und was für ein Körper, nämlich der eigene, ihn reklamierte das Individuum zwanghaft für sich. Das Individuumwar mit diesem Zwangskörper verschmolzen, hat ihn bis ans Ende durchgetragen, bis zu dem Augenblick, von dem an es wirklich nicht mehr weiterging – und auch wenn das Individuum seinen Körper zu Lebzeiten hasste, es musste ihn verbrauchen, es hatte zumhöchstpersönlichen Verbrauch ja nichts anderes als diesen einenKörper, ob es ihn nun hassteoder hätschelte, undwenn ein junger Körper durch einen Unfall zuTode kam, also noch unverbraucht verstarb, steht der Körper gerade durch den unerwarteten Tod erst recht im Mittelpunkt: Körper aus, alles aus (oder hier setzt das Theorem von einem Weiterleben nach dem Tode ein, eine der Glaubensfragen, mit denen man Endgültigkeiten wettmachen, wegmachen will).

Jeder Körper (der nicht in Abgründen versank, weggespült oder verbrannt wurde)hat immerhin für die Überlebenden noch dieLeiche übrig gelassen, die aber als Mensch nicht mehr mitspielt. Ich habe mir die Leiche meines Vaters, der mir als Mensch mitgespielt hat, nicht angesehen. Es wäre noch in der Leichenhalle ein Schaukampf gewesen. Überbleibsel gibt es auf der Welt von jedem Einzelnen, sie sind nur in Ausnahmefällen bekannt, identifizierbar, denn dass ei- ner nach seinem Tode in eine der vielen Arten von Museen zur höheren Ehre der Menschen, die überlebt haben, auffährt, ist eben nichts als Ausnahme. Aber die Menschheit (das muss man gerührt, also verlogen, aussprechen) ist eine Familie, selbst die Sackgassen, die zu nichts führten, verschmieren sich mit dem Weiterleben, mit dem Leben der Weiterlebenden. Eine ungeheure Mehrheit weiß nicht, auf welchen Individuuen ihr Dasein im Augenblick beruht: jeder ein Parasit, von dem eines Tages andere parasitieren werden.


Ja, andererseits, diese Individualität: Irgendwann ist mir klar geworden (ausgerechnet mir, und zwar an einem der Oktobernachmittage von der Art, die mich mein Leben lang erstaunt haben: Wie kann im Herbstso ein Sommertag sein?) – eines schönen Oktobers ist mir klar geworden, die Menschen stehen einander mit all ihren Lebensentwürfen im Wege, und wenn das sich verändern soll, wenn das Leben jenen Charakter annehmen soll, den es angeblich hat, nämlich dass es sich ändert, dass es im Flussist (und ich blickte, um nicht die Idee einer Illustration aufkommen zu lassen, nicht auf den Fluss), dann kann es nicht sein, dass die Einzelnen mit ihren eingespielten Arten, auf der Welt zu existieren, bleiben. Sie müssen in irgendeiner Form, zum Beispiel förmlich tot, nicht mehr da sein. Sie müssen Platz machen für Entwürfe und Lebenskämpfe anderer Einzelner.

Wie ähnlich diese Kämpfe auch sein mögen und wie sehr „die Gesellschaft“, also die Arena, in der die Kämpfe stattfinden, auch jeden Einzelnen uniformiert, nivelliert – es ist noch genug Substanz in diesen Körpern, die unterschiedliche Schicksale erleiden, umwenigstens die Erinnerung an Individualität zu verkörpern: die Gesichter unverwechselbar, die Haltung, die moralische und die physische, unverwechselbar, im Grunde doch beiallen anders. Die Andersheit beruht auf Zufällen, auch wenn selbst die Zufälle in einer Gesellschaft, in einer Zeit im Rahmen bleiben und nicht aus dem Rahmen fallen dürfen. Der Rahmen, das ist die jeweils herrschende Ethik: ihre Regeln und die Verletzungen dieser Regeln.

Die unnötigen Einzelexemplare, also Menschen wie ich und du, haben den Sinn, den sie ihrem Leben gegeben haben oder nicht gegeben haben (also auch die Sinnlosigkeit) ins Absolute hinaufstilisiert: Jeder Einzelne ist sich selbst ein Schicksal. Ein Schicksal mit Mehrwert: Ein Lebenslauf ist immer mehr als das, was er ist – er hat zum Sein noch eine Bedeutung, und Zeiten und Orte, in denen Lebensläufe von vornherein nur über Hürden führen, an denen man sich das Genick bricht, werden abgelehnt, als zerstörerisch gekennzeichnet. Die, die keine Aussichten im Leben haben, müssen ihren Aufstand selber machen; es ist immer zu wenig, was wir, die halbwegs fein raus sind, für sie tun können, tun wollen. Man lehnt aussichtslose Lebensumstände in erster Linie für sich ab, die andern bedauert man, dass das, was sie führen müssen (obwohl es ihnen bloß zustieß), kein Leben ist. Lebensläufe, durch die das Leben der Einzelnen keine Bedeutung hat, werden abgelehnt, zurechtgewiesen, vom Leibe gehalten, und es wird als Faktum behauptet, was doch nur eine ethische Norm ist (zu der wir uns allerdings alle beglückwünschen dürfen), dass nämlich das Leben jedes Einzelnen der höchste Wert ist. Der Tod und die Weltpolitik und so manches mir feindlich gesinnte Individuum, jeder meiner Todfeinde, kennt diesen höchsten Wert nicht an, und wenn einer von uns den Tod anerkennt, gerät er vielleicht in Versuchung, den höchsten Wert, also dieses Leben, auch nicht anzuerkennen: alles vergänglich, alles todgeweiht, alles eitel.


Ein bisschen (der Mann mit der Kamerakniet jetzt vor mir. Es ist zwar ein passender Augenblick, aber mit der Kamera hat man ganz andere Sorgen als solche, die man zur Sprache bringen kann. Der Mann mit der Kamera will den Himmel mit ins Bild bringen, ohne mich aus dem Bild zu werfen. Auch das ist nur mit Verrenkungen möglich. Die Regisseurin lässt den Haltungswechsel ohne Weiteres zu. Unmut zeigt nur der Tontechniker. Er hängt buchstäblich an der Kameraführung und muss auch in die Knie) – ein bisschen Angst habe ich, denn mein Argument, dass die Einzelnen gehen müssen, damit die anderen ihre Individualität durchsetzen können, klingt so, als wäre es vom Sozialdarwinismus inspiriert, der in die Metaphysik transponiert wird; dass also aus metaphysischen Gründen nicht alle Menschen gleichzeitig auf der Welt sein können, weil sie sonst einander und dem Fortschritt im Wege stünden.

Gäbe es in diesem Stirb und Werde nur den geringsten ökonomischen Sinn, dann müsste ich zum Beispiel allein deshalb auf der Welt bleiben, weil ich jetzt allmählich anfange, Johann Gottlieb Fichte zu verstehen, allerdings noch auf eine Art, die ich anderen nicht erklären kann. Ja, es ist die alte Geschichte – ein Chor singt sie und die Lyrics lauten: Jetzt hab' ich mein Leben lang die Weisheit mit dem großen Löffel gefressen, und auf einmal muss ich den Löffel abgeben! Das ist doch, berechnet am Nutzen meiner Errungenschaften, nicht ökonomisch. Eine zweite Stimme, auch im Chor, könnte dazu singen, dass es sich vielleicht doch rechnet, weil mit jedem Individuum nicht nur seine Errungenschaften verschwinden, sondern auch seine ganz persönlichen Fälschungen, die intimen Verdrehungen seiner Aneignungen. Mein Fichte.

Ich kann erklären, dass ich schon als Student über Fichte gearbeitet habe und dass sein Grundsatz „Das Ich setzt sich selbst“ auf Tausende Arten in mich eingegangen ist. Aber jetzt erst, allmählich, verstehe ich dieses Gesetze und Geheiße, ohne dass ich wie ein Anhänger dem Philosophen Fichte recht geben müsste. Aber ich verstehe die Not und die Überbrückung der Not, aus der der Satz „Das Ich setzt sich selbst“ stammt, auch wenn der Satz ohne Not, triumphierend und im Stil einer Wissenschaftslehre vorgetragen wurde: Jetzt sind wir, sagte Fichte, die Philosophen, endlich Wissenschaftler, und zwar einzig und allein durch mich, durch diesen Fichte... Ich verstehe, dass Fichtes Gesetz eben kein Gesetz wie ein Naturgesetz ist, aber eben auch keine Unverbindlichkeit, die einem alles erlaubt. Weder ein Gesetz, dem man sich unterwerfen muss, noch eine Anomie, die einem von allem entlastet – ja, das glaube ich begriffen zu haben. Und ich habe das Gefühl (kann daraus keine Wissenschaftslehre machen), dass dies das individuelle Leben „in der Zeit“ ausmacht. Dem Ich-Gesetz kann man sich gar nicht unterwerfen, auch wenn das schön wäre. Es ist als Gesetz paradox. Es handelt nämlich von einer maßgeblichen Freiheit, also von einer, die die Regel gibt. Jeder ist ebenso frei, wie er auch ganz und gar determiniert ist. Die einseitige Illusion von der vollständigen Determiniertheit feiert derzeit fröhliche Urstände. „Die meisten Menschen“, hat aber schon Fichte gesagt, „würden leichter dahin zu bringen seyn, sich für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich zu halten.“ „Seyn“ ist fein, ist die alte Schreibweise eines Wortes, dessen Wichtigkeit man weder übertreiben noch mit dem gleichsetzen sollte, was es ist: nämlich ein Hilfszeitwort. Man muss etwas aus sich machen (das ist das Gesetz), es bleibt einem gar nichts anderes übrig, da hilft einem keiner, am Schluss ist man der Mensch gewesen, den man aus sich gemacht hat. Und das Gemeine ist, dass man sich nicht mit Willkür hat formen können – nicht zuletzt „die anderen“ in Form des Nicht-Ich waren immer auf der Lauer und haben in dir den Stoff gefunden, durch den sie sich auch selber formten. Aber auch dein Wille war gebunden, abhängig von einer Natur, gegen die keiner etwas kann, abhängig von einer Gesellschaft, einer Zeit (die einen – zumindest zu meiner Lebenszeit – mehr beeinflussen, als man sie beeinflusst) und von Neurosen, die man sich in Gemeinschaftsarbeit mit anderen (mit dem Vater, mit der Mutter!) erwirbt.

Im Sinne dieser verwordakelten Souveränität („verwohrt“ ist Mittelhochdeutsch und bedeutet im schönsten Hochdeutsch: verwirkt. Im dürren Hochdeutsch bedeutet „verwordakelt“: verunstaltet, windschief), in dieser sich dauernd selbst negierenden Freiheit zelebriere ich verstört mein Dasein und suche Gesetze, an die ich mich halten kann, und finde solche, mit denen einen die anderen festhalten. Das sehe ich in Fichte hinein – sprachlos, denn was ich darüber sagen kann, ist höchstens ein Schatten meiner (vermeintlichen) Einsicht. Mir fehlen die Worte. Aber es ist unheimlich und unökonomisch, dass jetzt in diesem Augenblick irgendwo im deutschen Sprachgebiet ein junger Mensch sitzt, gebeugt über Fichtes Schriften, und so ein junger Mensch muss sich alles, woran ich fast ein Leben lang arbeitete, von Neuem erwerben. Warum? Na, um der Individualität willen, damit er seinen ganz eigenen Fichte auf die Beine stellt, aber wer braucht denn so was? Ich nicht, mir genügt mein Fichte, ein für alle Mal. Nur Fichte scheine ich nicht zu genügen. Ich bin nicht der Endpunkt der Auslegekunst, die ihm widerfuhr.


Den alten grau-schwarzen Strohhut nahm ich an dieser Stelle vom Kopf. Während ich von Fichte erzählte, hatte ich mich mehrere Male gefragt, ob ich nicht, um wenigstens ei- ne kurze Strecke zu schwimmen, ins Wasser springen sollte. Das wäre eine Szene für den Film gewesen!, aber man hätte sie schneiden müssen. So blieb ich ohne Erfrischung sitzen. Ich sah hinüber auf das gegenüberliegende Ufer: Im Juli, manchmal schon in den letzten beiden Juni-Wochen, stehen dortdie Zelte einer zahlenmäßig ausufernden Pfadfindergruppe, ich glaube, aus Wien-Währing. Diese gläubigen Menschen aus Wien haben extra ein kleines Areal umzäunt und mit selbst gebastelten Holzbänken ausgestattet. Dort feiern sie an Sonntagen die Heilige Messe. Der Priester wurde von ihnen aus der Stadt herausgebracht. Das Dasein der Pfadfinder, die – auf freundliche Art – unter sich sein und autark und lautstark sein wollen, verändert fundamental das Leben am Fluss. Während es sonst in sich ruht, wirkt es während der Pfadfindertage vonganz und gar naturfremden Zwecken überschwemmt – vom Lagerfeuer bis zur Messe. Die Zivilisation bricht aus. Auch Gesang erklingt, die Kultur bricht aus. Die Pfadfinder haben am Fluss einen kleinen Stamm auch mit künstlerischen Einsprengseln gegründet. Der Stamm trotzt jedem Wetter. Manchmal regnet es während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts, die Zelte scheinen ihnen davonzuschwimmen, aber niemals verstummt ihr Gesang auf Dauer, und kein Sonntag kann so verregnet sein, dass er ohne Heilige Messe vorüberginge.

Jetzt sind sie schon ein paar Wochen fort,aber ihre Anwesenheit gehört das ganze Jahr über zu diesem Ort. Sie werden – in anderer Besetzung – wiederkommen, und es wird mit ihnen so sein, wie es immer mit ihnen war. Dass sie jetzt nicht da sind, kann ich aus der Stille, die von ihrem Ufer ausgeht, heraushören. Ich drehe meinen Strohhut mit beiden Händen im Kreis, im Sitzen auf den Knien im Kreis, es ist eine bescheidene Geste (ich kenne sie aus Filmen, in denen die Knechte, ängstlich ihre Hüte in den Händen drehend, die Befehle des Herrn erwarten ...).

Im Alten Testament wird etwas zur Voraussetzung erhoben, was vielleicht post festum aus der Erfahrung und aus der Zurechtlegung unseres Lebenskampfes stammt (ja, ja, der Lebenskampf, sagt man, ist höchstens ein Lebenskrampf, nichts Schlimmes, in so gelungenen Welten wie der unseren, in der besten aller Welten, aber manche – dasleugnet niemand – beutelt es auch hier genug, und sie kommen, wenn überhaupt, nur knapp über die Runden). Im Rückblick will man glauben (auch bloß, weil man so weit gekommen ist), dass eh alles gut war, zumindest, dass es zur rechten Zeit geschah. „Ein jegliches hat seine Zeit“, sagt der Prediger, „und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist, würgen und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen, suchen und verlieren, behalten und wegwerfen, zerreißen und zunähen, schweigen und reden, lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit.“

Und diese Zeitgerechtigkeit (die nicht einjeder gleich lange überlebt) gilt auch für die Individuen. Mein Gott, was wäre ein Bismarck, der es schon zu seiner Zeit mit sich nicht leicht hatte, in der Massendemokratie? Bismarck hatte eine Zeit lang Fressanfälle, und er musste so viel weinen, alsihm ein Hund starb. Ich, sowieso ein weicher Mensch, will mich mit dem „eisernen Kanzler“ nicht vergleichen, bloß weil ich auch viel weine und Fressanfälle habe. Ich werde, ganz anders als Bismarck, nicht zu den tradierten Individuen gehören, die die Menschen sich um ihrer selbst willen merken. Nicht alle Menschen merken was, sondern einige, aber sie doch stellvertretend für alle. Von Bismarck sind sogar die Haustiere tradiert; Tyras, einer der sogenannten„Reichshunde“, zerriss dem russischen Außenminister das Hosenbein. – Das ist ja auch eine Definition für Kultur, dass spezifische Einzelne nicht in Vergessenheit geraten und dass dafür Sorge getragen wird, indem man nicht zuletzt materielle Mittel zur Verfügung stellt, um die Erinnerung an sie wachzuhalten.


Heute, in dieser Gegenwart, existieren soviele Zeiten auf einmal und durcheinander ... und schließlich wird man, wie man sagt, ja eines „auch noch sagen dürfen“: Was ist, wenn es eines Tages eine technische Lösung gegen den Tod gibt, wenn dann – in der Tat –alle überleben können? Eine Art Superphysiotherapie zur Einleitung der Unsterblichkeit des Individuums.

Fürs Erste wird nichts anders sein, denn es wird ein furchtbarer Krieg darüber herrschen, wer überleben darf und wer nicht. In diesem Krieg werden viele zu Tode kommen. Schließlich, stellen wir uns vor, nach vielen Opfern, setzt sich die „Demokratie der Errettung vor dem Tode“ durch, dieDET: Alle können überleben. Ein jederkommt in den Genuss der für immer lebensrettenden Physiotherapie. Was das für den Einzelnen bedeutet, wag ich mir gar nicht auszudenken, weil seine Endlichkeit dann eben weg wäre, und diese Endlichkeit, die ist wesentlich an dieser Individualität beteiligt: Alle Existenzen werden dadurch, dass sie gleichartig überleben, gleichgültig. Die Jahrtausende stapelten sich in den Individuen auf. Sie hätten miteinander alte Rechnungen zu begleichen, sie wären nicht umzubringen ... bis in alle Ewigkeit.

Also, wie man's dreht und wendet: Der Tod hat schon was, und das ist nicht nur schrecklich und furchtbar, sondern es ist etwas, was die Umstände auch klarlegt, klarmacht. Der Tod ist – zumindest auf der Welt – eine Grenze, an der es heißt: bis hierher und nicht weiter. Keine alten Rechnungen mehr, Sterblicher; oder noch deutlicher: Verstorbener (ich trank einen Schluck Wasser und brachte, nachdem mein Durst gelöscht war, durch den Versuch aufzustehen das Floß ins Schaukeln) – ja, des war's, jetzt brauch i eigentlich nix mehr sagen... das ist eine furchtbare Geschichte. Wenn man drüber nachdenkt, sagte der Tontechniker, der die lange Stange mit dem Mikrofon balancierte, will man es wieder einmal der Welt mitteilen (und es folgte ein skandalöser Aphorismus aus der Todesindustrie): „Was wollt ihr denn, ihr Hunde? Wollt ihr ewig leben?“


Das Team hatte sich in ein paar Sterbliche verwandelt, jeder auf seinen Tod bedacht. „Niemand will sterben“, hatte Steve Jobs gesagt, und man hätte sich damals, 2005, denken können, das würden sie ihm ins Grab nachrufen: „Sogar die, die in den Himmel wollen, wollen nicht sterben, um dorthin zu gelangen. Aber der Tod ist das Schicksal, das wir alle teilen. Niemand ist ihm jemals entkommen. Und so soll es auch sein, denn der Tod ist sehr wahrscheinlich die beste Erfindung des Lebens. Er ist der Motor des Wandels des Lebens. Er beseitigt das Alte und schafft Raum für das Neue. Jetzt seid ihr das Neue, aber eines nicht sehr fernen Tages werdet ihr nach und nach das Alte und werdet dann beseitigt. Es tut mir leid, so dramatisch zu sein, aber das ist die Wahrheit.“ – „... death is very likely the single best invention of life.“ Das ist eine der klassischen Bejahungen des Todes, mit deren Hilfe manmit ihm packelt, weil er sich nicht verhindern lässt.

Zum Merkwürdigen am Tod gehört, dassman ihn nicht ein Leben lang sprachlos erwarten will. Man will von ihm rechtzeitig gesprochen haben. Deshalb sollte man alle Banalitäten, die es über ihn gibt, wertschätzen. Man erleichtert sich das Sterbenlernen, indem man vertrauensvoll von ihm spricht. Der Kumpel Tod. Steve Jobs stellte das Vertrauen zum Tod her, indem er ihn zu dem ernannte, was er, Jobs, selber war: Er war ein genialer Erfinder. Die alten Computer benötigt man nicht mehr, auch der Tod beseitigt das Alte und schafft Raum für etwas Neues. So pragmatisch ist in Amerika selbst der Tod. Aber egal, was man über ihn sagt und wie man ihn findet, es scheint, als könnte man dem Tod das letzte Wort nicht nehmen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2011)


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