Wallstreet-Zombies und ein umjubeltes Gaddafi-Double

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Parade mit politischen Posen: Die Aktivisten von "Occupy Wallstreet" nutzten auch den Halloween-Umzug in New York, um sich in Szene zu setzen.

New york. Szenenapplaus auf offener Straße für einen neulich verblichenen nordafrikanischen Despoten in weißer Fantasieuniform, der mit der Attrappe einer vergoldeten Pistole huldvoll in die Menge winkt: Vor der UN-Generalversammlung in New York hatte Muammar al-Gaddafi mit einer eineinhalbstündigen Suada vor zwei Jahren einen seiner bizarrsten Auftritte geliefert, der Dutzende Spitzendiplomaten in die Flucht schlug.

In der Nacht auf Dienstag tauchte der Diktator, von zehntausenden Zuschauern akklamiert, als Wiedergänger bei der Halloween-Parade in der New Yorker 6th Avenue auf – die aktuellste und originellste Figur in einem Maskenball, in dem sich Selbstinszenierung, Jux und Polit-Posen vermählten.

Wenige Tage zuvor, am vergangenen Wochenende, war ein Schneesturm – der erste Gruß des Winters – über New York und die gesamte Nordostküste der USA hereingebrochen, der das übliche Chaos hinterließ: Geknickte Äste und gefällte Bäume säumten die Straßen der Metropole, der Central Park war vorübergehend geschlossen – wie ein Tatort durch gelbe Plastikbänder abgeriegelt. Drei Millionen Amerikaner blieben zunächst ohne Strom, die Zugverbindungen von New Jersey nach New York – eine frequentierte Pendlerstrecke – und hunderte Schulen waren gleich ganz gesperrt.

Zu Halloween, der US-Version des Karnevals, tobte eine von Hundertschaften von Polizisten gezähmte Anarchie durch die Straßen Sohos und Greenwich Village. Wummernde Bässe ließen die Wolkenkratzerschluchten erbeben, das Geheul verstummte erst weit nach Mitternacht.

„iPod, iPhone, iPad – iRest“

Samba-Combos wirbelten herum, die Blasmusikkapelle der Princeton University in Strohhüten und orange karierten Sakkos verscheuchte mit schmissigen Rhythmen die Kälte nahe am Gefrierpunkt. Maharadschas und Sultane, Surfer-Boy und Alpenländler mit Krachlederner, Mona Lisa und Abraham Lincoln, Jesus und ein Kardinal, ein Amish-Farmer und ein chassidischer Jude, venezianische Masken und Drag-Queens in Rokoko-Kostümen tanzten ausgelassen an der Menge vorbei.

Und manche entblößten ihren Oberkörper, die Bauchmuskeln zur Schau stellend. Eine Frau, offensichtlich ein Apple-Fan, erinnerte als Grabinschrift an Steve Jobs: „iPod, iPhone, iPad – iRest.“ Möge er in Frieden ruhen, sollte das heißen.

Barack Obama war ein begehrtes Fotoobjekt für die bibbernden Zaungäste, ein Doppelgänger brachte französische Touristen zum Kreischen. In seiner Heimat selbst ist der Präsident längst nicht mehr so populär. „Obama – geheimer Moslem“, hatte einer auf sein Schild gemalt.

An einem Fenster einer Wohnung an der Ecke 6th Avenue/13th Street tat einer seine Sympathie für die Anti-Wall-Street-Demonstranten kund: „99 Prozent“, hatte er draufgeschrieben – die Formel, die für den Protest einer bisher angeblich schweigenden Minderheit steht, unter deren Banner der Widerstand gegen die Banken und die Regierung firmiert. Aufforderungen wie „Wacht auf“ und „Occupy“ zogen sich denn auch wie ein roter Faden durch den Halloween-Zug, dessen Ende Marihuana-Schwaden einhüllten.

Zum Schluss hatten sich auch die Demonstranten formiert, angeführt von Fratzen, Dinosauriern und Ungeheuern, die den Kapitalismus symbolisieren sollten. „Stoppt die Vampir-Wirtschaft“, lautete eine Botschaft: „Die einzig sichere Bank ist die Blutbank.“ Einer war über und über mit Dollar-Bündeln bedeckt, andere marschierten als Wall-Street-Manager mit Hüten und schwarzen Anzügen verkleidet durch Manhattan und riefen: „Sucht euch einen Job.“ Manche schwangen Friedensfahnen, manche stilisierten sich zu „Superhelden“ der Arbeiterklasse.

Polizei beschlagnahmt Heizgeräte

Einen Erfolg können sich die Demonstranten vorerst auf ihre Fahnen heften: Sie verscheuchten den Winter. In ihrem Camp im Zuccotti Park im Finanzdistrikt überstanden sie den ersten Schneefall und die nasse Kälte, die in die Zelte und die Schlafsäcke kroch. Die Polizei konfiszierte jedoch die eingeschmuggelten Heizgeräte wegen Brandschutzbestimmungen, wie es offiziell heißt. An gespendeten Decken, Pullovern und winterfester Kleidung herrschte indes kein Mangel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2011)

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