Demonstranten-Camp stürzt Kirche in Krise

Londons Protestbewegung hat sich landesweit ausgebreitet. Regierung und Kirche sind überfordert.

Seit drei Wochen protestiert die „Occupy“-Bewegung vor dem Eingang der St. Paul's Cathedral in London, Großbritanniens größten Gotteshauses und einer der touristischen Hauptattraktionen. Von der Kritik vonseiten der Regierung und der Kirche zeigt sie sich bislang unbeirrt.

Die Geistlichen der Church of England hatten am Dienstag vergangener Woche ein Ultimatum an die Demonstranten gestellt, den Platz vor der Kathedrale binnen 48 Stunden zu räumen. Sonst würden rechtliche Schritte eingeleitet. Doch noch vor Ablaufen der eigens gesetzten Frist nahmen St. Paul's Cathedral und die City of London Corporation, der Verwaltungskörper der Londoner Innenstadt, die Drohung zurück. Nach einer zweistündigen Verhandlung mit den Demonstranten verkündete die Corporation, dass man nun doch vorerst von rechtlichen Schritten absehen werde. Die rund 200 Zelte von „Occupy London“ werden nun zumindest bis Neujahr ohne Störungen auf dem Platz vor St. Paul's bleiben können.

In der Nähe der Börse. Der Schritt der Behörde, vom Ultimatum doch abzusehen, kam überraschend. Denn die weitgehend autonom verwaltete City of London, der innere Bezirk der Hauptstadt, wo sich auch St. Paul's und die Londoner Börse befinden, hat die Besonderheit, dass nicht nur Wohnhafte, sondern auch dort ansässige Unternehmen stimmberechtigt sind. Gerade den in der City angesiedelten Finanzunternehmen sind die Proteste ein Dorn im Auge, sind diese doch nicht zuletzt gegen sie gerichtet. „Wir demonstrieren für soziale Gerechtigkeit, echte Demokratie und ein nachhaltiges Finanzsystem“, sagt George Barda, der vor St. Paul's seit dem 15. Oktober („Die Presse am Sonntag“ berichtete) sein Zelt aufgebaut hat.

Eigentlich wollten Barda und seiner Mitstreiter auf dem Paternoster Square vor der Börse demonstrieren. Da die Anrainer dies in einem Schnellverfahren verhindert haben, wird seither der Platz schräg gegenüber besetzt, direkt vor St. Paul's.

In der anglikanischen Kirche, die die St. Paul's Cathedral verwaltet, haben die Proteste mittlerweile eine Krise ausgelöst. Wegen Sicherheitsbedenken schloss die Kirche zum ersten Mal seit den deutschen Luftangriffen 1940 ihre Tore und verlor so nach eigenen Angaben rund 100.000 Pfund. Wegen der Androhung rechtlicher Schritte gegen die Protestler befürchteten einige Geistliche Gewalt gegen widerspenstige Demonstranten. Zuletzt traten daher zwei führende Kräfte von St. Paul's zurück. George Barda ist enttäuscht von der Kirche, die die Proteste nicht unterstütze. „Die müssten eigentlich auf unserer Seite stehen. Den Einfluss des Geldes aus der Demokratie zu verbannen, fordert die christliche Lehre in fast jeder Predigt.“

Die Proteste haben sich unterdessen ausgeweitet. Im westlich gelegenen Bristol haben „Occupy“-Demonstranten 50 Zelte vor der Bristol Cathedral aufgeschlagen. Ähnlich viele Zelte stehen im schottischen Edinburgh vor dem Sitz der Royal Bank of Scotland. Weitere andauernde Proteste gibt es in Bath, Bradford und Birmingham. „Wir sind gekommen, um zu bleiben“, sagt George Barda in London zufrieden.

»Verschwindet!«. Der konservative Londoner Bürgermeister Boris Johnson wäre die Demonstranten gern los. Er erwägt neue Gesetze, die vermeiden sollen, dass sich Zeltsiedlungen „wie Eiterbeulen verbreiten“. In Anlehnung an den Konflikt mit der Kirche forderte er die Demonstranten auf: „Im Namen Gottes und des Mammon: verschwindet!“ In London haben die rund 2000 Besetzer ihr Lager mittlerweile auf den Finsbury Square ausgeweitet, einen Platz in der Nähe mehrerer Finanzunternehmen. Unterdessen wurden in Canary Wharf, wo leicht östlich des Zentrums die meisten Großbanken sitzen, Zäune aufgestellt. Man wolle sich vor störenden Protesten schützen, hieß es.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2011)

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