»Wollen die vielleicht nach Nordkorea übersiedeln?«

Der US-Politikwissenschaftler Benjamin Barber sieht Parallelen zwischen Tea Party und den »Occupy Wall Street«-Aktivisten.

Gibt es Parallelen zwischen der Tea Party und „Occupy Wall Street“?

Benjamin Barber: Ja. Die Tea Party betrachtet die Banken und die Bankenrettung als Problem ebenso wie die „Too big to fail“-Philosophie, dass alle Großen gerettet werden müssen, weil ansonsten angeblich das System kollabiert. Occupy Wall Street sieht die Politiker als korrupt, die großen Konzerne als Feind. Beide – die Tea Party und Occupy Wall Street – sind nicht mit ein paar Reformen zufrieden, sie wollen einen Systembruch.

Worum geht es beiden Bewegungen?

Für sie ist alles ein großes Übel: Regierung, Konzerne – es geht ihnen um Politiker, die nicht zuhören, es geht um Macht, Ungleichheit, Korruption. Sie sagen: Das System funktioniert nicht, man kann es auch nicht reparieren, also muss man es ändern. Es gibt neben der Tea Party und Occupy Wall Street eine dritte große Gruppe: „Occupy your Couch“. Das sind jene, die sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und lieber auf ihrer Couch sitzen: Jene, die zu Hause bleiben, sich lieber ihrer Karriere widmen, ihr eigenes Ding durchziehen.

Welche Bedeutung messen Sie der Besetzung von Zuccotti Park nahe der Wall Street zu?

Ich glaube schon, dass wir einen Schlüsselmoment erleben: Der Frust über das System ist groß geworden, aber die Antworten sehen sehr unterschiedlich aus. Auf der rechten Seite sucht man nach Leuten, denen man den Schwarzen Peter zuschieben kann. Die Vertreter dieser Politik meinen: Das Problem sind die Schwarzen oder Latinos, das Problem ist die Migrationspolitik. Ich würde sagen, vielleicht 50 Prozent der Tea Party praktizieren eine Politik der Angst und der Schuldzuweisung – das ähnelt sehr der Politik der europäischen Rechtspopulisten. Hier in Europa, etwa für die FPÖ in Österreich, sind die Muslime oder die Ausländer schuld. Diese politischen Gruppen wollen nicht in die Zukunft, sondern zurück in die Vergangenheit. Die Tea-Party-Aktivisten etwa weisen die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts – etwa in der Sozial- und Umweltpolitik – zurück. Das sieht man an den Slogans. „Wir wollen Amerika zurück!“, tönt es da. Occupy Wall Street ist eher progressiv, diese Leute wollen eine andere, eine bessere Zukunft.

Und die Couch-Besetzer, jene, die derzeit inaktiv bleiben, was wollen die Ihrer Meinung nach?

Die bleiben daheim, ziehen sich ins Hier und Jetzt zurück.

Occupy Wall Street hält den Kapitalismus für gescheitert.

Ich halte es für eine etwas gefährliche Position, wenn auf beiden Seiten – Tea Party und Occupy Wall Street – Leute meinen: „Wir müssen das System umstürzen, weil das System irreparabel ist.“ Dieser Utopismus führt nirgendwohin. Wenn man sagt, dass der Kapitalismus gescheitert ist, was dann? Dabei geht es darum, wieder zu einer gesunden Forum des Kapitalismus zurückzufinden. Wenn man das aber alles zurückweist, wohin wollen diese Leute übersiedeln? Nach Nordkorea oder nach Venezuela? China ist übrigens keine Alternative für diese Leute, weil China es geschafft hat, ein totalitäres politisches System mit einem radikalliberalen Wirtschaftssystem zu kombinieren.

Ist die Demokratie mit den derzeitigen Krisen überfordert?

Wenn es eine Krise gibt, dann sagen wir, wie schön, dass wir eine Demokratie haben, wir wählen einfach eine Regierung ins Amt, die die Probleme löst. Was aber, wenn die Politik selbst das Problem ist? Die Menschen haben nach dem Lehman-Kollaps im September 2008 drei Jahre lang darauf gewartet, dass die Politik die Probleme angeht. Passiert ist freilich nichts. Also sagen die Leute nun: „Genug!“ Die Menschen haben den Glauben an die Problemlösungskapazität verloren.

Meine Lösung ist also nicht, das System infrage zu stellen, sondern das ökonomische und politische System zu reparieren. In meinem Buch „Consumed“ schreibe ich: Kapitalismus ist nützlich, wenn Kapitalismus hilft, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Das ist dann der Fall, wenn der persönliche Profit der Allgemeinheit nützt. Heute produziert man Dinge, die jeder will, aber eigentlich niemand braucht. Und was das politische System betrifft: Da hätte ich einen Slogan für Occupy Wall Street, den die Demonstranten den Bankern entgegenschleudern könnten: „Für jeden Dollar den wir haben, habt ihr eine Million. Aber für jede Stimme, die wir haben, habt ihr auch nur eine Stimme. Merkt euch: Wir sind mehr als ihr!“

Benjamin Barber
(geb. am 2. August 1939) ist Professor an der University of Maryland und einer der einflussreichsten Politikwissenschaftler der USA. Er war innenpolitischer Berater der Clinton-Regierung. Barber war auf Einladung des Bruno-Kreisky-Forums Gast in Wien und sprach beim Symposium: „Genial dagegen – was hätte Bruno Kreisky heute vorgeschlagen?“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2011)

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