Experte: "Den typischen Terroristen gibt es nicht"

28. Oktober 2011 vor der Botschaft in Bosnien.
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Der niederländische Terrorismusforscher Edwin Bakker hat eine neue Studie über Jihadisten in Europa veröffentlicht. Bakker im Gespräch über weibliche Terroristen, schärfere Gesetze und die Angst vor einem europäischen Jihad.

Sie haben für Ihre Studie die Biografien von rund 340 Jihadisten untersucht, die in Europa tätig waren und hier verurteilt wurden. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?

Edwin Bakker: Dass es keinen typischen Terroristen gibt. Manche sind achtzehn, manche fünfzig. Sie kommen aus Pakistan, Nordafrika, Deutschland oder Frankreich. Es fällt aber auf, dass die Gruppe, in der sich die Betroffenen radikalisieren, bereits existiert. Sie entsteht also nicht neu. Sie sind Brüder, Freunde oder sind zusammen aufgewachsen.

Müssen die Brüder oder Freunde bereits in radikalen Kreisen verkehren?

Nein. Man redet über Fußball und Mädchen. Dann geschieht etwas, zum Beispiel stirbt die Mutter oder eine charismatische Führungspersönlichkeit taucht auf. Damit fängt die Gruppe an, über Palästina, Tschetschenien oder den Irak zu sprechen, später geht man in eine Moschee. Wenn manche Gruppenmitglieder weiterhin über Fußball und Mädchen reden wollen, werden sie rausgekickt. Die Gruppe isoliert sich und wird radikaler.

 

Das heißt, die Gruppe steckt sich ohne großen Einfluss von außen gegenseitig an. Wo sind eigentlich die Eltern?

Sie wissen nicht, was los ist. Die Kinder von Immigranten zum Beispiel halten sich viel draußen auf, die Eltern wissen nicht, was sie treiben. Hinzu kommt die große Kluft der Generationen.

 

Welche Rolle spielen die Frauen?

Sie unterstützen die Männer, indem sie zum Beispiel Texte übersetzen und ins Internet stellen. Es gibt Fälle, in denen die Frauen radikaler sind als ihre Männer. Da gibt es einen Wettbewerb: Wer weiß mehr über den Islam?

Man hört aber kaum von weiblichen Jihadisten. Gibt es sie überhaupt?

Sehr wenige. Die meisten werden nicht verurteilt, weil es schwer nachvollziehbar ist, ob sie wirklich in terroristische Aktivitäten involviert waren. In meiner Studie kommen drei Frauen vor.


In Österreich wird gerade ein neues Anti-Terrorpaket geschnürt. Der Besuch eines Terrorcamps steht dann unter Strafe. Was halten Sie von diesen Gesetzesverschärfungen?

Es ist sehr schwierig zu beweisen, dass jemand in einem Terrorcamp war. Die Gesetze sind also symbolisch, weil sie so wenige Leute betreffen. Es gibt nicht wenige, die sagen: Nie sollten wir Gesetze nur wegen der Symbolik haben. Ich bin da aber anderer Meinung, denn diese Gesetze implizieren: Das ist nicht erlaubt.

Problematisch wird es, wenn die Gesetze nur den Islam und Jihad betreffen. Das ist diskriminierend. Das Gesetz muss auch für nicht-islamische terroristische Vereinigungen gelten.

Gerade die Teilnahme an Terrorcamps impliziert doch die Bereitschaft der Betroffenen, zu den Waffen zu greifen.

Sie können nicht ohne Weiteres nach Pakistan gehen und sagen: „Hallo, ich bin dein Bruder, ich will mit dir kämpfen.“ Nur eine Handvoll Gruppen haben wirklich in Camps trainiert.

Tschetschenien ist eine Ausnahme. Es gibt hier ein Netzwerk, das vor allem in Wien und Antwerpen Leute rekrutiert Einige von ihnen wurden letztes Jahr festgenommen.

Auch wenn Terrorcamps verboten und Leute verhaftet werden, kann es trotzdem Terrorismus geben, oder? Was wird Ihrer Ansicht nach in Europa falsch gemacht hinsichtlich der Prävention?

Nach den Anschlägen in Madrid und London hatten viele Angst vor „hausgemachtem“ Terrorismus. Vor allem in England wurden Radikale zu einem Sicherheitsproblem stilisiert – was nicht stimmt, es ist viel mehr ein soziales Problem. Die Briten haben überall nur mehr Attacken gesehen. Daher haben sie mit radikalen Gruppen zusammengearbeitet, um Terrorismus zu verhindern. Die Moderaten sind dabei untergegangen. Ich denke, dass man Radikale auch in Ruhe lassen muss. Es ist schwierig zu intervenieren, wenn man nicht weiß, was eigentlich passiert.

Meinen Sie, dass man nur dann intervenieren soll, wenn Radikale zu Terroristen – also gewalttätig – werden könnten?

Ja. Manche Dinge, die Radikale machen, sind durchaus vereinbar mit der Verfassung von europäischen Ländern.

Welche?

Es gilt zum Beispiel die Redefreiheit – aber nicht für Hasspredigten.

Denken Sie nicht, dass die Angst vor dem Jihad in Europa begründet ist?

In den vergangenen Jahren gab es 500 terroristische Vorfälle pro Jahr, zwischen null und fünf betrafen Jihadisten. Islamistischer Terror ist keine Gefahr für die Sicherheit, aber er ist tatsächlich die größte Gefahr, weil die Auswirkungen auf Gesellschaft und Politik enorm sind. Die Debatte über Integration und Minderheiten in Europa gerät dadurch ins Wanken.

 

Um nochmal auf die Heterogenität der Jihadisten zurückzukommen: Wie viele Konvertiten kommen in Ihrer Studie vor?

15 Personen. Die meisten sind aus der Unterschicht und haben psychologische oder ökonomische Probleme. Das gilt aber nicht nur für Konvertiten, sondern auch für die anderen Jihadisten. Wie gesagt, wir haben hier ein soziales Problem.

Edwin Bakker
ist Direktor des Zentrums für Terrorismus und Anti-Terrorismus an der Universität Leiden, Campus
Den Haag.

Bakker hat seine Studie über
Jihadisten in Europa („Jihadi Terrorists in Europe“) aus dem Jahr 2006 aktualisiert und soeben in einem neuen Sammelband veröffentlicht:
„Jihadi Terrorism and the Radicalisation Challenge“; Hg.: Rik Coolsaet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2011)


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