Wem gehört die Ethik?

Schattenkämpfe, Missverständnisse und Ängste vor Machtverlust dominieren die Debatte um den Ethikunterricht. Eine Replik.

So intensiv in den vergangenen Wochen über Form, Zweck und Möglichkeit des verpflichtenden Ethikunterrichts diskutiert wurde, so unbefriedigend stellen sich die Debattenbeiträge aus philosophischer Sicht dar. Da werden zum einen Erwartungen an das Fach Ethik gerichtet, dass einem ganz schwindlig wird: Wer behauptet, Ethik an Schulen könne uns „aus dem Korruptionssumpf retten“ (Beitrag Anton A. Bucher in der „Presse“ vom 23.9.2011), fällt einem Missverständnis anheim, das sich im aktuellen Diskurs nur zu oft findet: Nämlich, dass theoretisches Wissen um Konzepte und Theorien des guten Handelns automatisch die Motivation zu diesem Handeln generieren könnte. Mit Arthur Schopenhauer gesprochen: „Ethik kann so wenig zur Tugend verhelfen, als eine vollständige Ästhetik lehren kann, Kunstwerke hervorzubringen.“

Ethik ist eine philosophische Disziplin, die sich kritisch-reflexiv mit Normen und Werten befasst, mit deren (erkenntnistheoretischen) Grundlagen sowie ihren Anwendungen. Moral ist ihr Gegenstand, nicht ihr Inhalt. Dies wird sowohl von jenen geflissentlich übersehen, die einen allgemeinen Ethikunterricht als Heilmittel gegen gesellschaftliche Problemfelder aller Art anpreisen, als auch jenen, die ihm reflexhaft unterstellen, ein Verschwörungsprojekt der Religionsvertreter zu sein, um verpflichtenden Religionsunterricht unter anderem Namen einzuführen (Beitrag Philippe F. Lorre vom 27.10.2011). Um Letzteres auszuschließen, ist vor allem die Ethiklehrer-Ausbildung in den Blick zu nehmen. Dass diese noch immer nicht im Rahmen eines vollwertigen Studiums erfolgt, ist ebenso kritisch zu beurteilen wie Ausbildungen unter der Ägide kirchlicher Institutionen.

Wer verpflichtenden Ethikunterricht für alle Schüler wünscht und dabei an einen Benimmkurs denkt, der sollte das Fach entsprechend benennen (z.B. „Moralerziehung“), den Begriff Ethik aber aus dem Spiel lassen. Ein Ethikfach, das en Namen verdient, schreibt jungen Menschen keine Handlungen und Lebensziele vor, sondern bemüht sich, selbstständiges Durchdenken komplexer Sachverhalte, wie sie sich von Bioethik bis Technikethik als gesellschaftliche Herausforderungen aufdrängen, zu fördern, und durch vergleichende Darstellung mitunter konträrer ethischer Theorien die Urteilskraft zu stärken.

Wenn nun an diese Version eines sachlichen, professionellen Ethikunterrichts der Vorwurf herangetragen wird, mit „wertneutraler Erziehung“ werde die „Gefahr von Manipulation durch verkappte ideologische Gurus und Vorfeldterroristen“ heraufbeschworen (Beitrag V. Zsifkovits vom 31.10.2011), so mutet dies geradezu absurd an und kann nur als pro-domo-Argumentation derjenigen gewertet werden, die bereits jetzt durch den Zuspruch der Schüler zum Fach Ethik, besonders aber im Fall der verpflichtenden Einführung, ihre Felle davonschwimmen sehen. Ganz im Gegenteil ist immer dann Indoktrination zu befürchten, wenn in einem hierarchischen Kontext normative ethische Maßstäbe, religiös fundiert oder nicht, als verbindlich und kritisches Denken als Bedrohung ausgewiesen werden.

Zur Person

Dr. Marie-Luisa Frick ist Assistenzprofessorin am Institut für Philosophie an der Universität Innsbruck.

E-Mails an: lehrer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2011)

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