Rückkehr der Dämonen

Kairo, neun Monate nach der Revolution. Junge Kopten, die um ihre neue Freiheit fürchten. Die Muslimbruderschaft, die plötzlich die Trennung von Staat und Religion für sich entdeckt. Ein Militärrat, der bei Bedarf TV-Frequenzen und Internet abschalten lässt. Ein Lokalaugenschein.

Kairo im Herbst. Die an alten Karawanenstraßen gelegene Metropole am Nil, einst ob ihrer Reichtümer und Schönheiten von Dichtern „die Mutter der Welt“ genannt, erweckt mit ihren 18 Millionen Einwohnern den Eindruck, als stünde sie ständig am Rande des Kollaps. Die Revolution ist neun Monate alt, und schon klagen Stimmen: „Die Freiheit kann man nicht essen!“ Nach dem Befreiungstaumel demoralisieren explodierende Preise, stockender Tourismus, horrende Arbeitslosigkeit und machtbesessene Militärs die Bevölkerung.

„Allahu Akbar“ hallt es über den Tahrirplatz – wenige Hundert Meter vom Nilufer entfernt. Die Lippen eines jungen Polizisten bewegen sich lautlos unter dem aufgeklappten Visier. Der kaum 20-Jährige fixiert mit seiner linken Hand den mächtigen Schutzschild, die rechte umklammert den Schlagstock. Ob dessen Gebete auch den Opfern der Revolution gelten? Die Gerichtsverfahren gegen die Häscher, auch gegen Angehörige der Sicherheitskräfte, gehen wie der Prozess gegen den gestürzten Despotenclan nur schleppend voran. Der Hohe Militärrat will es so. Haben sich so die Worte eines Mannes am Tahrir bewahrheitet? Der hatte am letzten Freitag im vergangenen Juli angesichts Zehntausender aufmarschierender Islamisten aufgewühlt gemeint: „Diese aus dem ganzen Land zusammengekarrten religiösen Fanatiker sollen den Menschen Angst einjagen! Sollen die nationale Einheit von Muslimen und Christen bedrohen! Das stärkt das Militär! Um dann im Chaos als letzte Retter dazustehen. Sie stehlen uns die Revolution!“ Es wäre nicht das erste Mal, dass Generäle es meisterhaft verstehen, die Ängste der Säkularen gegen die Pläne der Religiösen auszuspielen.

Die betende Masse hebt und senkt rhythmisch ihre Körper; mit ihr bewegen sich die in Arabisch und teilweise in Englisch verfassten Transparente wie surreale Gestalten: „Der Koran ist unsere Verfassung“, „Freiheit für Maikel Nabil!“, „Hängt Mubarak! Tod den Zionisten!“ Mit der Predigt des Scheichs setzen erste Pfiffe aufgebrachter Jugendlicher ein. Der Geistliche fährt unbeirrt fort, zitiert aus dem Koran, beschreibt den Islam als eine allumfassende Ordnung mit göttlicher Weisung für das Individuum und für die Gesellschaft. Neben mir schütteln die seit der Revolution befreundeten Aktivisten Mohamed Famaz und Osama Zaki die Köpfe. Beide, der eine Muslim, der andere Kopte, plädieren mit ihrer säkularen Gerechtigkeitspartei für ein demokratisches Ägypten, in dem Staat und Religion getrennt sind. Der 27-jährige Mohamed Famaz schreit mir ins Ohr: „Wir haben Mubarak nicht hinter Gitter gebracht, um dann das Militär am Hals zu haben!“

Osama Zaki deutet auf das Transparent „Freiheit für Maikel Nabil!“, sagt verhalten: „Maikel sitzt seit März im Gefängnis. Er hat gegen die Militärs protestiert, Folter- und Tötungsvorwürfe im Internet veröffentlicht. Ein Militärgericht hat ihn in einem Schnellverfahren wegen ,Verleumdung der ägyptischen Streitkräfte‘ zu drei Jahren Einzelhaft verurteilt. Jetzt ist er im Hungerstreik.“ Nabils Lage ist ernst. Seine Familie und Mitstreiter bangen um dessen Leben.

Unterwegs zum Gefängnis El Marg am Stadtrand von Kairo. An einer Metrostation sollen der Vater und jüngere Bruder von Maikel Nabil zusteigen. Der Vater von Maikel Nabil ist vor Wochen aus seiner Heimatstadt Assiut angereist. Sanad Nabil versucht seit Tagen, seinen Sohn im El Marg zu besuchen. Hier sollen seit März mehr als 10.000politische Häftlinge einsitzen. Human Rights Watch ist alarmiert,spricht von einer Paralleljustiz in Ägypten. Der 55-Jährige ist blass und angespannt; vor Monaten schon hat ihn die staatliche Banque Misr vom Filialleiter zum Schalterbeamten degradiert. Der Mann durchlebt Kafkaeskes – der verlorene Sohn, der bis zu seinen Konflikten mit Familie und Kirche ein religiöser Asket war, sagt nun: „Wenn es sein soll, verhungere ich für die Freiheit.“ Der jüngere Sohn, Marc, sitzt regungslos neben seinem Vater. Als der ältere Bruder vor seiner Verhaftung im Blog geschrieben hatte: „Wir haben zwar den Diktator gestürzt, aber die Diktatur herrscht immer noch!“, waren die Eltern entsetzt. Sie hielten nichts vom Aufstand der Jungen, befürchteten als koptische Christen Chaos und Anarchie. In deren Augen war das System Mubarak zwar korrupt, garantierte aber den zumindest zehn Millionen zählenden Kopten – trotz Benachteiligung, Übergriffen, vereinzelter Verfolgung – fragile Sicherheit.

Mit diesem Kalkül jonglierte der Diktator jahrzehntelang mit gefügigen Lakaien und lavierenden Autoritäten wie dem koptischen Papst Schenouda III. Der heute 88-jährige Kirchenfürst, einst selbst inhaftiert, hatte sogar für die Regierung Mubarak in koptischen Einflusssphären der Nachbarländer die Wasserrechte des Nils verhandelt.

Maikel Nabil bloggte auch: „Ich will in keinen möglichen Krieg gegen Israel ziehen. Unser Land und der arabische Raum brauchen den Frieden mit Israel.“ Solche Worte reizen die Militärs. Ihnen ist das Feindbild Israel im Umgang mit den rumorenden Massen, fanatischen Islamisten ein trefflicher Trumpf, der bei aufflammender Wut blitzartig sticht. Die Militärs werden sechs Wochen später – gleichsam als Exempel ihres Demokratieverständnisses – den mittlerweile zwangsernährten Maikel Nabil aus der Einzelzelle in eine geschlossene Psychiatrie verlegen. Etwa zur selben Zeit veröffentlicht eine ins Ausland geflohene Bloggerin ihren Augenzeugenbericht von den blutigen Ereignissen des 9. Oktober 2011, die 27 Menschen tot und mehr als 350 verletzt zurückgelassen haben: „Es war die Rückkehr der Dämonen: Gepanzerte Armeefahrzeuge haben koptische Demonstranten gejagt und überfahren. Gleichzeitig riefen staatliche Medien die moslemische Bevölkerung auf, den Soldaten zu Hilfe zu eilen, sie seien von Kopten angegriffen worden. Das war das Signal für die angeheuerten Schlägertrupps, die schon während der Revolution gewütet hatten. Mein Land ist das nicht mehr.“

Dass die Welt dies alles erfährt, stört die Generäle. Ein Kollege von Al Jazeera erzählt mir verstört von einer Polizeirazzia im hiesigen Korrespondentenbüro. Begründet wurde die Strafaktion mit dem Scheinargument, dem in Doha ansässigen, während der späten Mubarak-Ära verbotenen Nachrichtensender fehlten Dokumente für eine gültige Arbeitsgenehmigung. In Wahrheit grassiert eine schleichende Zensur im Land. In heiklen Situationen werden TV- und Mobilfrequenzen gesperrt, das Internet wird abgeschaltet. Meine Crew und ich wurden ohne Begründung für einen halben Tag in einer sehr ungemütlichen Polizeistation festgehalten. Das Informationsministerium stellt uns weiterhin keine Akkreditierung aus, sagt, die vor Wochen eingereichten Unterlagen seien unauffindbar. Das Risiko, wieder verhaftet zu werden, steigt. Eine meiner Übersetzerinnen meldet sich nicht mehr: Sie hat Angst.

Bis vor der Revolution war der Islam in der Verfassung als Staatsreligion verankert. Jetzt fordert das demokratische Lager einen säkularen Staat. Das ist eine enorme Herausforderung – auch für die im Westen von Geheimnissen wie Klischees umwitterte Muslimbruderschaft. An der neuen Fassade ihres vierstöckig aufragenden Hauptquartiers in Muqattam prangt das runde, beleuchtete Wappen – gekreuzte Schwerter bekrönen den Koran. Die 1928 gegründete, während der Nasser-Ära drakonisch verfolgte, von Mubarak mit einer Doppelstrategie bekämpfte Organisation steht für einen islamisch-nationalistischen Wohlfahrtsstaat. Die bestens vernetzten Muslimbrüder – viele sind Ärzte, Apotheker, Richter, Rechtsanwälte, Hochschullehrer, Unternehmer, die mittlerweile auch führende Positionen in Armee und Gewerkschaft bekleiden – sind eine moderne Massenbewegung mit moderaten wie radikalen Flügeln.

Vor dem Gittertor betet ein junger Mann. Islamistischen Gläubigen ist die Vorstellung eines säkularen Staates ein Gräuel: Sie verheißt ihnen die Zurückdrängung der Religion ins Private und nährt deren Ängste vor einer atheistischen Gesellschaft. Umso erstaunlicher ist es, dass die Muslimbruderschaft in jüngsten Stellungnahmen ihrer informellen Nummer eins, Essam el Erian, von einer Trennung von Staat und Religion nach islamischer Fasson gesprochen hat. Religiöser Pragmatismus also.

Die Hoffnung, wir könnten den notorischen Spätarbeiter el Erian per Zufall aufspüren, erfüllt sich nicht. Wieder und wieder wähle ich seine Nummer – keine Antwort. Dann plötzlich: „El Erian“, antwortet eine ruhige Stimme am Mobiltelefon. Endlich! Wir bekommen noch einen Spättermin.

Das Gespräch findet in der Klinik des Kinderarztes statt, wo verschleierte Mütter mit ihren Babys geduldig auf die Hilfe des Muslimbruders warten. Der 58-Jährige tritt salopp im beige-schwarz gestreiften Polohemd auf, spricht gutes Englisch, bevorzugt jedoch, das Interview in Arabisch zu führen. Auf die Ängste des säkular-demokratischen Lagers angesprochen, das postrevolutionäre Ägypten könnte von einer militärisch-religiösen Achse regiert werden, antwortet er: „Wer die Geschichte unserer Organisation kennt, weiß, wie sehr die Militärs unsere Bruderschaft verfolgt haben. Es gehört jedoch zum demokratischen Verständnis der Bruderschaft, sich mit dem Militärrat über die Zukunft unseres Landes auszutauschen.“ El Erian gilt als Exponent der „islamischen Mitte“, der die islamischen Werte mit den Grundprinzipien einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung verbindet. Wie verträgt sich jedoch das islamische Unterwerfungspostulat mit den demokratischen Freiheitsrechten? Wie korrespondieren Allah und die Demokratie, Scharia und die republikanische Verfassung, der Koran und die offene Gesellschaft?

Für einen Augenblick sieht mich der führende Muslimbruder schweigend an, sagt dann: „Die Werte des Westens sind nicht unsere Werte. Über all die Jahre ist eine die Menschen verachtende und korrupte Diktatur vom Westen mit dem Vorwand gestützt worden, mit ihr die islamistische Gefahr zu bannen. Demokratie und Freiheit, Moral und Werte spielten dabei keine Rolle, wohl aber Macht und Geld, Einfluss und Gottlosigkeit. Es ist unbestritten, dass unser Land gegenwärtig große Probleme hat, dass ein demokratischer Staat nach islamischer Fasson hart zu erarbeiten ist. Aber wir befinden uns auf einem guten, reformistischen Weg – und wir benötigen keine Ratschläge von außen.“

Freundlich und bestimmt kommen diese Worte, ohne Ressentiment, aber mit Distanz. Muslimbrüder wie Essam el Erian wirken besonnen und unbeirrt. Sie waren es, die in all den unsäglichen Jahren vielen Landsleuten im täglichen Leben beigestanden sind. Kein Wunder, dass der jüngste Wahltriumph der Bruderpartei in Tunesien die Muslimbrüder im Land am Nil zufrieden stimmt. Ende November soll Ägypten sein erstes freies Parlament wählen – falls die Militärs gnädig gestimmt sind, und der Allmächtige auch. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2011)


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