Einzugestehen, dass auch die eigene Seite Kriegsverbrechen begangen hat, fällt Kroatiens Öffentlichkeit noch immer schwer. Statt auf gemeinsame Aufarbeitung der Vergangenheit setzt Zagreb eher auf einseitige Schritte.
Belgrad/Zagreb. Der Anteilnahme von Zagrebs Regierungschefin können sich die populärsten kroatischen Häftlinge sicher sein. Einen „besonderen Gruß“ richtete Premierministerin Jadranka Kosor bei den Feierlichkeiten zum 16. Jahrestag der Rückeroberung der Krajna im August an die beiden Generäle Ante Gotovina und Mladen Markač – obwohl diese das UN-Tribunal für Exjugoslawien Monate zuvor in erster Instanz zu 24 und 18 Jahren Haft verdonnert hatte. „Ohne die Operation Sturm und ohne deren Kommandanten wären wir heute nicht hier“, begründete die Chefin der konservativen HDZ ihre Solidaritätsadresse an die Verurteilten.
Gotovina habe mit den von ihm befehligten Attacken auf serbische Zivilisten einen „entscheidenden Beitrag“ bei der „kriminellen Vereinigung“ zu deren Vertreibung geleistet, hatte das Gericht das Urteil begründet. Als deren Drahtzieher machten die Richter einen weiteren Nationalhelden Kroatiens aus: den verstorbenen Staatsgründer Franjo Tudjman.
Nicht nur Kosor zeigt sich über das vermeintliche Schandurteil empört. Als „ungerecht“ und Bestrafung für den „gerechten Krieg gegen den serbischen Aggressor“ empfinden viele Kroaten den Richterspruch aus Den Haag: Ein selbstkritischerer Umgang mit den dunklen Seiten der eigenen Kriegsvergangenheit fällt Kroatiens Öffentlichkeit auch nach zwei Jahrzehnten noch immer schwer.
„Legalisierter Verbrecherschutz“
Für die Schaffung einer gemeinsamen Wahrheitskommission zur Aufarbeitung von Kriegsverbrechen (Rekom) haben Menschenrechtsaktivisten in den Staaten des früheren Jugoslawien in diesem Jahr bereits mehr als eine halbe Million Unterschrift gesammelt. Aus der Kriegsvergangenheit müssten Lehren für die Zukunft gezogen werden, statt „sie weiterzuleben“, so die Initiatoren. Doch nirgendwo findet die grenzüberschreitende Initiative so wenig Anklang wie im Adriastaat: Nicht einmal 20.000 Kroaten können sich für eine grenzüberschreitende Dokumentation aller begangenen Kriegsverbrechen erwärmen.
Statt auf gemeinsame Aufarbeitung der Vergangenheit setzt Zagreb eher auf einseitige Schritte: Ende Oktober drückte die regierende HDZ im Parlament eine Gesetzvorlage durch, die alle aus dem benachbarten Serbien stammenden Rechtsakte über mutmaßliche Kriegsverbrechen kroatischer Staatsbürger für „null und nichtig“ erklärte. Mit dem Schutz der kroatischen Bürger hatte die Regierung das umstrittene Gesetz begründet. „Dieses Gesetz schützt nicht die Bürger Kroatiens, sondern die Interessen derjenigen, die Kriegsverbrechen begangen haben“, ärgerte sich die Zagreber „Jugendinitiative für Menschenrechte“ über den „legalisierten Verbrechensschutz“.
Kontinuität der Macht
Fast vier Jahre lang waren große Teile Kroatiens von serbischen Truppen besetzt. Hunderttausende wurden zu Opfern von Vertreibung und Kriegsverbrechen. Doch es ist nicht nur die Sorge, als Nation und Opfer eines Angriffskriegs nun selbst auf die Anklagebank zu rücken, die Zagreb gezielt den Mythos vom „gerechten Vaterlandskrieg“ pflegen lässt.
Seit den Kriegsjahren sei mit der HDZ fast immer dieselbe Kraft an der Macht gewesen – und „die stellt sich nicht selbst infrage“, erklärt der Schriftsteller Igor Stiks den Unwillen zu einem offeneren Umgang mit der eigenen Kriegsvergangenheit auch mit der „Kontinuität der Macht“. Über die von ihr kontrollierten Medien und Diaspora-Verbände mache Zagreb nicht nur gegen das UN-Tribunal Stimmung, sondern versuche auch, das Bild vom sauberen Befreiungskrieg zu festigen: „Selbst in der Opposition hat kaum jemand den Mut, den HDZ-Mythos vom gerechten Vaterlandskrieg infrage zu stellen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2011)