Ex-Jugoslawien medial neu vernetzt: Al-Jazeera Balkans in Sarajewo gestartet

(c) AP (KAMRAN JEBREILI)
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Der neue Ableger des arabischen Senders al-Jazeera ist für die provinzielle, von Politfürsten und Tycoons gesteuerte Medienlandschaft am Balkan eine Bereicherung.

Seit letzter Woche flimmern den Bewohnern des zerfallenen Vielvölkerstaats endlich wieder Neuigkeiten von den fremd gewordenen Nachbarn ins Haus. Ob Studentenstreiks in Montenegro, Straßenbarrikaden im Kosovo, Regierungsturbulenzen in Bosnien, der Wahlkampf in Kroatien oder die Eröffnung eines neuen Supergefängnisses in Serbien: Grenzüberschreitend müht sich der neue Nachrichtensender al-Jazeera Balkans vom Hauptstudio in Sarajewo aus, das Publikum in den Nachfolgestaaten des zerfallenen Jugoslawien zumindest medial neu zu vernetzen.

Sprachlich ist die Verständigung zwischen Bosniern, Kroaten, Serben oder Montenegrinern zwar kein Problem. Eine Selbstverständlichkeit ist der rege Nachrichtenaustausch zwischen den einstigen Bruderstaaten zwei Jahrzehnte nach Ausbruch der Jugoslawien-Kriege aber dennoch keineswegs. Zwar sind die Zeiten offen nationalistischer Propaganda gegen die einstigen Kriegsgegner weitgehend vorbei. Doch die Berichterstattung bleibt noch stets vom provinziellen Blick auf den eigenen Nabel geprägt. Oft bestimmen von heimischen Politfürsten und Tycoons kontrollierte Medien und seichte Privatkanäle die relativ abgeschotteten Informationsmärkte der Nachfolgestaaten.

Studios in Belgrad, Skopje und Zagreb

An einer medialen Neuschaffung des verschwundenen Jugoslawien sei al-Jazeera keineswegs gelegen, versichert Goran Milić, der kroatische Chefredakteur des neuen Regionalsenders. Doch durch die Kriege sei der Informationsaustausch zwischen den Nachbarn zum Erliegen gekommen: „Manche Kroaten haben die Städte in Serbien und Mazedonien schon seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen – und andere Serben haben keine Ahnung, wie sehr sich die Städte in Bosnien und Kroatien verändert haben.“ Nachrichten und Themen aus einem Land, die auch für Bewohner anderer Staaten interessant sein könnten, will der im bosnischen Sarajewo beheimatete Sender mit Studios im serbischen Belgrad, mazedonischen Skopje und kroatischen Zagreb zu einer größeren Verbreitung helfen.

Mit der Festlegung einer offiziellen Sendersprache hält sich al-Jazeera Balkans wohlweislich erst gar nicht auf. Ob Serbisch, Kroatisch, Bosnisch oder Montenegrinisch: Alle Redakteure und Korrespondenten dürfen mit ihrer eigenen Klangfärbung sprechen. Mazedonier und Slowenen können die verschiedenen Spielarten des einstigen Serbisch-Kroatisch zumindest verstehen. Im Kosovo scheint das potenzielle Publikum hingegen begrenzt: Serbisch wird von jüngeren Kosovo-Albanern kaum mehr gesprochen.

Einen zweistelligen Millionenbetrag hat al-Jazeera bislang in seinen neuen Balkansender investiert. Vorläufig strahlt der neue Sender täglich sechs Stunden Nachrichten- und Feature-Blöcke aus – den Rest des Tages geht das englischsprachige Programm des Muttersenders über den Äther. In Bosnien und Kroatien wird al-Jazeera Balkans bereits in die größeren Kabelnetze eingespeist, in Serbien ist der neue Sender für die meisten Haushalte bislang hingegen meist nur über Satellit oder live per Internet zu verfolgen. Das keineswegs flächendeckende Korrespondentennetz wird notfalls mit zugekauften Bildern – und Skype – ergänzt: Viele Gesprächspartner in der ex-jugoslawischen Provinz lassen sich mithilfe der kostenlosen Videoschaltung im Internet von den Studiomoderatoren interviewen.

Bosnier sind skeptisch: „Muslimsender“

Aber nicht nur technische Anlaufschwierigkeiten machen dem TV-Neuling trotz der fast einjährigen Vorbereitungen noch zu schaffen. Im serbischen Teil Bosniens wird der vermeintliche „Muslimsender“ eher skeptisch beäugt. Obwohl sie wochenlang geschult wurden, fällt es den von nationalen Sendern rekrutierten Mitarbeitern gelegentlich schwer, komplizierte Polit-Turbulenzen im bosnischen Labyrinth oder dem serbischen Sandžak auch für das Publikum anderer Staaten verständlich und kurz zu erklären. Aber nicht nur Journalisten, sondern auch die an brave Hofberichterstattung gewohnte Politikerriege hat sich an die neue Ära schneller Fragen und präziser Antworten erst noch zu gewöhnen: Allzu langatmige Interviewpartner pflegen die al-Jazeera-Moderatoren bei Live-Gesprächen notfalls auch mitten im Satz recht unsanft abzuwürgen.

Al-Jazeera

1996 musste der arabische Gemeinschaftssender von BBC und Orbit wegen Zensurforderungen der saudischen Regierung eingestellt werden. Daraufhin gründete Scheich Hamad bin Chalifa Al Thani, der Emir von Katar, den arabischen News-Sender al-Jazeera und stellte die entlassenen BBC-Mitarbeiter ein. Am 1. 11. 1996 wurde der Sendebetrieb von Doha aus aufgenommen.

Al-Jazeera Balkans mit Sitz in Sarajewo sendet täglich sechs Stunden Nachrichten aus Ex-Jugoslawien. Dazwischen werden Sendungen von al-Jazeera International ausgestrahlt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2011)

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