Der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu kündigt "rechtliche Schritte" wegen der Ermordung türkischer Bürger an. Davutoğlu bezeichnet die Getöteten als „Märtyrer“. In Berlin sucht man weiter nach Erklärungen.
Istanbul/Berlin/Keet/Red. Die Türkei will rechtliche Schritte wegen der Mordserie deutscher Neonazis einleiten, bei der acht Türken ermordet wurden. Das kündigte am Wochenende der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu an.
Seine Erklärung begann Davutoğlu mit einem für Deutschland wenig schmeichelhaften Vergleich: So wie es gelungen sei, 25.000 türkische Arbeiter ohne den Verlust eines Blutstropfens aus Libyen in Sicherheit zu bringen, so werde die Türkei auch „die Rechnung für jeden Tropfen Blut“ eines in Deutschland getöteten Landsmannes verlangen. Die getöteten bezeichnet Davutoğlu als „Märtyrer“ – in islamischen Ländern werden gefallene Soldaten Märtyrer genannt. „Sie wurden getötet, weil sie die Identität hatten, die wir mit Ehre tragen“, sagte Davutoğlu. „Sie wurden getötet, weil sie Türken waren.“
Die Sprache der Erklärung mag etwas archaisch klingen, der Inhalt blieb aber bei den bekannten Fakten. Die Regierung hat offenbar derzeit nicht die Absicht, aus den Morden eine politische Krise zwischen Deutschland und der Türkei zu machen. Welche juristischen Schritte die Türkei erwägt, sagte Davutoğlu nicht. Zwischen den Zeilen konnte man jedoch lesen, dass es wohl eher um die Beobachtung von Prozessen geht.
Auch die türkischen Medien haben sich in den letzten Tagen eher zurückgehalten, indem sie vor allem aus der deutschen Presse referiert haben. Aufsehen erregte die bei der Nazi-Zelle in Zwickau gefundene angebliche Todesliste, auf der 88 Personen und Institutionen stehen, darunter das türkische Konsulat in München. In den Zeitungen ist die deutsche Politik billig davon gekommen. An den Langzeitschaden für das deutsche Integrationsprojekt ändert das jedoch nichts.
Zweifel an Selbstmord
In Berlin hat die Neonazi-Mordserie am Montag den Innenausschuss des Bundestages beschäftigt. In einer Sondersitzung berieten die Abgeordneten über Konsequenzen aus den bekannt gewordenen Pannen von Verfassungsschutzämtern und Polizei. Außerdem wollten die Parlamentarier Klarheit über den aktuellen Ermittlungsstand bekommen. Doch die Erkenntnisse fügen sich nur langsam zu einem noch immer unvollständigen Gesamtbild.
Die Selbstmorde der beiden rechtsextremen Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sorgen für Rätsel: Die offizielle Version lautet, dass die beiden nach einem Banküberfall vor mehr als zwei Wochen ihr Wohnmobil in Eisenach in Brand setzten und sich erschossen. Die „Welt“ berichtete, dass Anrainer keine Schüsse gehört haben wollen. Zudem wird eine unbekannte dritte Person ins Spiel gebracht, die sich beim Wohnwagen aufgehalten und diesen kurz vor Ankunft der Polizei verlassen haben soll. Die Generalbundesanwaltschaft bestreitet dies.
Außerdem räumte der Präsident des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, ein, dass die 2007 vom Zwickauer Neonazi-Trio erschossene Polizistin wohl doch Kontakt zu ihren Mördern gehabt hatte. Die junge Polizistin stammte ebenfalls aus Thüringen, es könnte sich um eine Beziehungstat gehandelt haben, sagt Ziercke.
Auf einen Blick
Der Zwickauer Gruppe werden mindestens zehn Morde an Migranten – acht Türken und eines Griechen – sowie einer Polizistin zur Last gelegt. Der offenbar rechtsextremistische Hintergrund der Mordserie zwischen 2000 und 2007 war den Ermittlern nicht aufgefallen und kam erst ans Licht, als Anfang November zwei Mitglieder der Zelle in einem Wohnmobil in Eisenach Selbstmord begingen und später in ihrer Zwickauer Wohnung Tatwaffen entdeckt wurden. Ein mutmaßliches Mitglied und ein mutmaßlicher Komplize sitzen in Untersuchungshaft.
Der Innenausschuss des deutschen Bundestags ist am Montag zusammengetroffen, um über Konsequenzen nach den Ermittlungspannen zu beraten. Die Regierung will dem Bundesverfassungsschutz mehr Macht geben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2011)