Demonstranten auf dem Tahrir-Platz trauen den Versprechungen von Armee-Chef Tantawi nicht. Sie richten sich auf eine lange Konfrontation ein. Militärrat will bis Juli Präsidentschaftswahlen durchführen.
Kairo. „Heute Morgen hat mein zweijähriger Sohn mit einer Gasmaske gespielt, die hatte ich gestern auf dem Tahrir dabei und hatte sie auf dem Küchentisch liegen lassen. Leben wir in einem verrückten Land?“, fragt mein Nachbar und Freund, der ägyptische Menschenrechtsaktivist Gasser Abdel Raseq, auf dem gemeinsamen Weg ins Büro in unmittelbarer Nähe des Tahrir-Platzes.
Bevor wir losfuhren, hatte er noch zwei leere Benzinkanister eingeladen. Das war ein Auftrag, den er vom „Tahrir-Nachschubteam“ per E-Mail erhalten hatte. Denn eines der Feldkrankenhäuser auf dem Tahrir-Platz bräuchte Benzin für seinen Generator, in „sicheren Metallkanistern“, damit sich das Benzin nicht durch die Tränengasgranaten entzünden könne. Gasser ist einer von hunderten Freiwilligen, deren Nummern, E-Mail- und Facebook-Adressen kursieren, um den Nachschub für den Tahrir-Platz zu organisieren.
Die Logistik der Revolution
„Diesmal sind wir wesentlich besser organisiert als zu Beginn des Jahres beim Aufstand gegen Mubarak. Dort richten sich alle auf einen langen Aufenthalt ein“, erklärt Gasser. „Die Leute auf dem Platz wollen so lange auf dem Tahrir bleiben, bis das Militär seine Macht an eine zivile Autorität abgibt“, sagt er. Denn keiner traue den Ankündigungen des Feldmarschalls Muhammad Tantawi.
In einer Fernsehansprache hatte dieser am Mittwochabend angekündigt, dass der Militärrat bis Juli Präsidentschaftswahlen durchführen und dann seine Macht an einen zivilen Präsidenten abgeben wolle. Für den Fall, dass das Volk einen früheren Übergang wünsche, stellte er vage ein Referendum in Aussicht. „Der gleiche Tantawi hatte nach dem Sturz Mubaraks versprochen, dass das Militär für eine Übergangszeit von nicht mehr als sechs Monaten an der Macht bleiben wird, eine aktenkundige Lüge“, meint Gasser.
Das Militär sei direkt für den Tod von Dutzenden Ägyptern verantwortlich, habe mindestens 12.000 Menschen vor Militärgerichte gestellt und stehe jetzt hinter den Auseinandersetzungen gegen die Tahrir-Demonstranten. „Warum sollen die Menschen nach einer Rede mit vagen Ankündigungen nach Hause gehen?“, fragt er.
„Die Übergabe von einer militärischen zu einer zivilen Verwaltung ist entscheidend dafür, dass sich die arabischen Länder in Zukunft normal entwickeln können”, argumentiert der Kolumnist Rami Al-Khouri. „Das erneute Aufleben der Demonstrationen ist vielleicht wichtiger als die Massenproteste gegen Mubarak vor neun Monaten, weil sie ein Kernproblem der modernen arabischen Welt angehen: die übertriebene Rolle des Militärs“, schreibt er. In Tunesien laufe der Prozess hin zur einer Demokratie in Tunesien wesentlich besser, weil die tunesische Armee ihre begrenzte Rolle akzeptiert habe, während die ägyptische Armee immer noch glaube, die öffentliche Ordnung und Angelegenheiten „fest im Griff halten zu müssen“.
Die Proteste in Ägypten hatten sich schnell verselbstständigt. Nach einer großen Freitagsdemonstration, organisiert von verschiedenen politischen Gruppierungen, einschließlich der Muslimbrüder, hatte eine Gruppe von nur 50 Aktivisten beschlossen, auf dem Platz zu übernachten, bis die Forderung der Machtübergabe des Militärs erfüllt wird. Am Morgen waren sie auf 200 angewachsen. Die Polizei stürmte den Platz. Doch binnen kürzester Zeit strömten Tausende herbei, um die Aktivisten zu verteidigen. Fünf Tage später waren schon Hunderttausend auf dem Tahrir-Platz.
Das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten hatte zur Solidarisierung geführt. Es ist eine politisch aktive Gruppe aus unterschiedlichsten Strömungen, deren Mitglieder auch nicht den Anweisungen ihrer politischen Führungen folgen. So hatte die Muslimbruderschaft beispielsweise ihren Mitgliedern untersagt, auf dem Tahrir gegen das Militär zu demonstrieren. Trotzdem waren am Mittwoch zahlreiche junge Muslimbrüder auf dem Platz.
Ratlosigkeit und Aufbruch
In Kairo herrschen Ratlosigkeit und Aufbruchstimmung in einem. Die Parlamentswahlen sind infrage gestellt, kaum jemand traut den vagen Versprechungen der Militärs.
Herr Gasser sitzt jetzt im Büro und wartet auf die Lieferung des Generators. Im Laden hat man ihm sofort einen Preisnachlass gegeben, als man erfuhr, wohin das Gerät gebracht wird. Die Summe hat er in wenigen Stunden in seinem Freundeskreis gesammelt. Ein anderer Freund kommt gleich mit Kabeln und Glühbirnen vorbei. Dann geht es zum Platz. Läuft alles nach Plan, wird das Feldlazarett noch vor Sonnenuntergang mit Strom versorgt sein.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2011)