Diagnose „paranoide Schizophrenie“: Der Tunnelblick auf ein Ungeheuer

Der Fall Breivik: Es ist fatal, das Böse durch Aufzeigen von Ursachenketten als krank zu banalisieren. Kranke Menschen gilt es zu heilen, wenigstens zu trösten. Das Böse aber muss bekämpft werden.

Manche mögen den rein pragmatischen Standpunkt einnehmen. Weil die Gerichte Norwegens keine lebenslange Strafe verhängen dürfen – das maximale Strafausmaß beträgt 21Jahre, selbst bei Verbrechen gegen die Menschheit höchstens 30Jahre –, erklärt man den Attentäter von Oslo und Utøya für unzurechnungsfähig. Als geistig Kranken kann man ihn sein restliches Leben lang in einer psychiatrischen Anstalt verwahren und so die Gesellschaft für immer vor ihm schützen. Außerdem ist die Stempelung zum psychiatrischen Fall das Letzte, was sich der Unhold wünschte, also ist damit zugleich eine Demütigung als zusätzliche Strafe für seine Morde gesetzt.

Wer so argumentiert, sollte zumindest freimütig gestehen: In der Illusion, im reichen und vom sozialen Frieden geprägten Norwegen eine Art „heile Welt“ geschaffen zu haben, ging der Staat davon aus, dass es nicht nötig sei, Haftstrafen lebenslänglich zu verhängen. Welch fataler Lapsus angesichts der bestialischen Brutalität des Attentäters von Oslo und Utøya!

Manche mögen den wissenschaftsgläubigen Standpunkt einnehmen: Wenn die Rechtspsychiater Torgeir Husby und Synne Sørheim nach eingehender Prüfung und insgesamt 13Gesprächen mit dem Inhaftierten befinden, der Mörder von 77Menschen leide an „paranoider Schizophrenie“, die sich seiner bemächtigte, und er sei in einem psychotischen Zustand gewesen, als er am 22.Juli zuerst im Osloer Regierungsviertel eine Bombe zündete und danach auf der Insel Utøya 69Menschen erschoss, so ist dies ein unumstößlicher Befund eines objektiv wahren Sachverhaltes. Wie wäre noch daran zu rütteln?

Wer so argumentiert, verschanzt sich hinter der Wissenschaft. Niemand kann von Psychiatern angesichts des monströsen Verbrechens anderes erwarten als diese Diagnose. Richtet sich doch kraft ihres wissenschaftlichen Tunnelblicks all ihr Streben danach, Unerklärliches – und kaum etwas ist unerklärlicher als das Hereinbrechen des Bösen – durch das Aufzeigen von Ursachenketten zu banalisieren. Angesichts einer Bestie verschlägt es einem die Sprache.

Wer aber „paranoide Schizophrenie“ sagen kann, der glaubt der Bestie die Maske vom Gesicht gerissen und sie als einen von einer Krankheit geplagten Menschen entlarvt zu haben. Welch ein Irrtum, wenn es sich gerade umgekehrt verhält! Wenn das Wort „paranoide Schizophrenie“ bloß Ausflucht vor der Tatsache ist, dass der Wahn eines Ungeheuers in Wahrheit unfassbar bleibt, doch dieser Wahn nichts mit einer Krankheit zu tun hat und das Ungeheuer abgrundtief böse ist!

Worin, so fragt sich der von der Wissenschaft Überzeugte, für den die Seele nichts anderes als ein Spuk und das Verhalten eines Menschen nichts anderes als durch Vererbung und Umwelt verursachtes Tun ist, besteht denn der Unterschied zwischen krank und böse? Und er wird die Antwort nicht verstehen, die da lautet: Kranke Menschen versucht man zu heilen, zumindest deren Leiden zu lindern; und so auch dies nicht gelingt, zu trösten. Das Böse aber muss man verabscheuen und zu bekämpfen versuchen, soweit man kann.

Und aus der Sicht der Angehörigen der Opfer: Wäre der Gewalttäter kein Verbrecher, sondern bloß krank, wären die durch seine Hand zu Tode Gekommenen im Grunde nur Unfallopfer – und die Absurdität ist perfekt.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2011)

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