Diagnose: Mut und Hoffnung sind unheilbar

(c) Erwin Wodicka - wodicka@aon.at (Erwin Wodicka)
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36 Millionen Menschen in Europa leben mit einer von 8000 seltenen Erkrankungen. Sie warten bis zu 20 Jahre auf eine klare Diagnose, finden nur schwer spezialisierte Ärzte, kaum Medikamente und wenig Verständnis.

Ein Foto? Lena hat kein Problem mit einem Foto. Die hübsche, schlanke 18-Jährige setzt sich am Esstisch der Familie in Pose, lehnt sich vor, lehnt sich zurück, dreht sich nach rechts, dreht sich nach links, ganz professionelle Konzentration und Kooperation. Modeln, sagt Lena, wäre schon mal lustig. Die Figur hat sie. Die Größe hat sie auch. Und außerdem hat sie ganz viele jener Eigenschaften, ohne die ein Model einer Kamera gar nicht in die Nähe zu kommen braucht: Zähigkeit, Entschlossenheit und Mut. Denn ohne die wäre aus Lena, dem Schmetterlingskind, wohl kein so selbstbewusster Schmetterling geworden.

Lena Riedl wurde mit der Hautkrankheit Epidermolysis bullosa (EB) geboren. Die Patienten werden auch „Schmetterlingskinder“ genannt, weil ihre Haut so verletzlich ist wie die Flügel eines Schmetterlings. Wenn EB-Babys ihre Augen reiben, beginnen sie zu bluten, drehen sie sich einmal im Bett um, entstehen durch die Reibung sofort schmerzhafte offene Wunden und Blasen. Säuglinge vertragen keine Windeln, Kleinkinder lernen erst sehr spät gehen, weil ihre Fußsohlen so empfindlich sind, auf Spielplätzen droht permanent Lebensgefahr. Die schwersten Fälle können nicht schlucken und überleben nur einige Monate.

Lena teilt dieses Schicksal mit ungefähr 500 Personen in Österreich, in ganz Europa sind es 30.000. Das macht EB zu einer seltenen Krankheit, zu einer von rund 5000 bis 8000. Diese Erkrankungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Ein Schmetterlingskind ist etwas völlig anderes als ein Mädchen, das beispielsweise an einer von 87 seltenen Anämien erkrankt, ein Bub, der an Progerie leidet – der Überbegriff für genetische Störungen, die zu einem frühzeitigen Altern bei Kindern führen –, ist eine Sache, ein Alstrom-Syndrom-Patient, bei dem die Stoffwechselstörungen so massiv sind, dass ein Organ nach dem anderen den Dienst versagt, ist eine völlig andere.

Fünf Betroffene unter 10.000.

Dennoch haben seltene Krankheiten einiges gemeinsam. Zum Beispiel die Definition. Als „selten“ gilt in Europa eine Erkrankung, von der nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Manchmal erwischt es auch nur einen in einer Million. Was auf den ersten Blick vernachlässigbar aussieht, ist in Summe jedoch gar nicht so wenig. Sechs bis acht Prozent der europäischen Bevölkerung leben mit einer seltenen Erkrankung. Und das sind in der EU immerhin 36 Millionen Menschen.

Seltene Krankheiten zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie zu zwei Drittel im Kindesalter auftreten, unheilbar sind und genetisch bedingt. Um etwa wie Lena Riedl an der dystrophen Form von Epidermolysis bullosa oder am Alstrom-Syndrom zu erkranken, muss man im Genroulette ordentlich Pech haben. Nur wenn beide Eltern den Gendefekt in sich tragen, bricht er bei den Kindern aus. Oder auch nicht. Lena wurde mit EB geboren, ihre jüngere Schwester ist zwar Trägerin, bei ihr ist die Krankheit aber nicht virulent.

Für die Patienten bedeutet die Diagnose einer seltenen Erkrankung sehr oft ein Leben mit lähmenden, chronischen Schmerzen und Beschwerden. Wobei die Diagnose selbst keineswegs eine sichere Sache ist. Eines der großen Probleme ist nämlich, dass die meisten Ärzte nicht in der Lage sind, festzustellen, was den Menschen eigentlich fehlt, deren Symptome sich hartnäckig jedem Behandlungsversuch widersetzen. Sehr oft lautet das Fazit dann: „Alles psychosomatisch.“ Oder, noch schlimmer: „Hypochonder.“ Was den oft jahrelangen Leidensweg der Betroffenen so besonders hart macht, ist das Gefühl, nicht nur allein, sondern auch alleingelassen zu sein.

Aber selbst wenn ein Arzt einer dieser rätselhaften Krankheiten auf die Spur kommt, muss das nicht immer zum Wohle des Patienten sein. Lesley Greene, Mutter von Jenny, die an der seltenen Stoffwechselkrankheit Cystinose litt, hat da eher schlechte Erinnerungen. „Der behandelnde Arzt war damals so begeistert von sich selbst, dass er uns ganz aufgeregt und in allen Details schilderte, was mit unserem Kind passieren würde, bis zum Tod“, sagt sie.

Das Alstrom-Syndrom

Solche und ähnliche Erfahrungen kennt Kay Parkinson nur allzu gut. Als ihr Sohn Matthew 1975 geboren wird, fällt den Eltern auf, dass das Baby besonders hungrig ist, negativ auf Licht reagiert und seine Augen nicht kontrollieren kann. Noch im Kleinkindalter erblindet Matthew. Sechs Jahre später kommt seine Schwester Charlotte auf die Welt. Mit elf Wochen erleidet sie einen Herzstillstand. Die Ärzte stellen keinen Zusammenhang her. Die nächsten zehn Jahre verbringen beide Kinder zu einem guten Teil bei Ärzten. Am auffälligsten ist, dass beide große Probleme haben, ihr Gewicht zu halten. Wenigstens Charlottes Lehrerin hält mit ihrer Diagnose nicht hinter dem Berg. „Ihre Tochter ist gierig“, sagt sie zu Kay Parkinson. „Immer trinkt sie den anderen Kindern den Orangensaft weg.“

Als auch Matthews Herz mit 16 versagt, beginnen die Ärzte endlich, eins und eins zusammenzuzählen. Beziehungsweise eins und eins und eins und eins und eins. Bei Matthew und Charlotte wird das Alstrom-Syndrom festgestellt, das alle fünf großen Killer der westlichen Welt vereint: ein krankes Herz, eine kranke Leber, kranke Nieren, Diabetes und Übergewicht. Kay Parkinson zeigt ein Foto, Matthew ist 18, Charlotte 15 (siehe unten): „Hier lachen wir. Wir hatten gerade, endlich, eine Diagnose bekommen. Wir lachen aber auch, weil wir da noch keine Ahnung haben, was diese Diagnose bedeutet.“

Matthew stirbt mit 25. Er ist blind und taub, hat drei Herzschrittmacher hinter sich und ein neues Herz. Charlotte stirbt mit 29. Sie hat sich durch die Uni gekämpft und will heiraten. Das ist auch der Grund, warum sie sich auf eine riskante Operation einlässt, bei der ihr gleichzeitig ein neues Herz und eine neue Niere eingesetzt werden sollen. Diese Operation ist ihre letzte Chance auf ein halbwegs normales Leben. Charlotte wacht aus der Narkose nicht mehr auf.

Jus-Studium in Wartezimmern

„Es war nicht so, wie ich mir vorgestellt hatte, dass es sein würde, Kinder zu haben“, sagt Kay Parkinson. „Warum bekam ich dennoch ein zweites Kind? Es war das zweite Kind, das mir die Kraft gab, zu kämpfen.“ Die resolute Britin fand andere Betroffene und organisierte Treffen in Hotels, zu denen auch interessierte Ärzte eingeladen wurden. „Dort untersuchten die Mediziner die Kinder. Wir Eltern aber brachten ihnen bei, auf welche Zusammenhänge sie achten müssen“, sagt Parkinson. Außerdem lernte sie, dass sie für die Rechte ihrer kranken Kinder kämpfen musste. „Ich machte einen Abschluss in Jus“, sagt sie. „Während ich in Wartezimmern saß, las ich meine Skripten.“ Diesen Kampf führen Kay Parkinson und ihr Mann nach dem Tod von Matthew und Charlotte weiter. Sie hatten die Wahl, sagt sie: „Wollten wir bittere Menschen werden? Oder bessere?“

Dass die Diagnose „seltene Erkrankung“ Kampf bedeutet, lernten auch Lena Riedls Eltern sehr bald. „Als Lena auf die Welt kam, fehlte auf ihrem Füßchen ein Stück Hautschicht, ungefähr so groß wie eine Euromünze“, erinnert sich ihr Vater Rainer Riedl. „Einige Tage später bekam sie Bläschen an den Nasenflügeln.“ Die Ärzte erklärten, so etwas komme vor. Doch die Riedls ruhten schon damals nicht. Nach vier Monaten sagte man ihnen, was sie nicht hören wollten: Epidermolysis bullosa. „Erst vor drei oder vier Jahren bekamen wir eine exakte Diagnose“, sagt Riedl. Denn EB gibt es in mehreren Spielarten, eine davon hat Lena, die dystrophe EB. Das ist die zweithäufigste Form, sie macht ein Viertel aller Fälle aus. Weniger als eines in einer Million Neugeborenen sind davon betroffen.

Während die Riedls versuchten, mit den Herausforderungen der Krankheit zurechtzukommen, setzten sie gleichzeitig alles daran, Lena ein möglichst normales Leben zu ermöglichen. Das war nicht unbedingt leicht. Der letzte Sommerurlaub war für Lena ein Höhepunkt – vor allem aus einem Grund. „Zum zweiten Mal in meinem Leben habe ich zwei Tage ganz ohne Verbände verbracht“, sagt die 18-Jährige. Dass die Leute sie anstarren, daran hat Lena sich gewöhnt. „Früher habe ich immer T-Shirts mit langen Ärmeln getragen. Heute nicht mehr. Ich will kein Mitleid, ich will nicht anders behandelt werden. Die Krankheit hat mich zu dem gemacht, was ich bin: etwas Besonderes.“

Dass Lena heute eine so selbstbewusste junge Frau ist, hat sie auch ihren Eltern zu verdanken. Für ihren Vater ist das Schicksal der Schmetterlingskinder mittlerweile zu seiner Hauptbeschäftigung geworden. „Es ist die Mission meines Lebens“, sagt Rainer Riedl. Er leitet die Patientenorganisation Debra, die 1995 gegründet wurde. Und zwar so erfolgreich, dass das Schicksal der Schmetterlingskinder mittlerweile vielen Menschen in Österreich ein Begriff sein dürfte. „Wir hatten da allerdings auch viel Glück“, sagt Riedl. Zum Beispiel mit einer mehrfach preisgekrönten Anzeigenkampagne.

Aufs Glück dürfen sich Menschen mit seltenen Krankheiten allerdings nicht verlassen. Denn die größten Hürden können sie nur überspringen, wenn sie sich zusammenschließen – und zwar auf nationaler und auf internationaler Ebene. Das ist einer der Bereiche, in denen sich die Europäische Union als sehr hilfreiche Schiene erwiesen hat.

Nur gemeinsam stark

Wer krank ist, hat oft weder die psychische noch die physische Kraft, für seine Rechte auf die Barrikaden zu steigen. Das müssen Menschen mit seltenen Erkrankungen aber, damit ihre besonderen Bedürfnisse verstanden und auch unterstützt werden. Das gilt zum Beispiel für Medikamente. Viele davon sind chefarztpflichtig. Menschen mit seltenen Erkrankungen wäre geholfen, wenn sie dafür nicht jedes Mal um eine Genehmigung ansuchen müssten. Das gilt aber auch für die Festlegung von Pflegestufen und für die Unterstützung der Angehörigen.

Deshalb sind Patientenorganisationen für Menschen mit seltenen Erkrankungen besonders wichtig. Was eine rührige Vertretung bewirken kann, hat Debra in Österreich vorgezeigt. Problematisch wird es allerdings, wenn zu viele Einzelorganisationen um die Gunst der Öffentlichkeit wetteifern und nicht an einem Strang ziehen. Deshalb wollen sich die Gruppen jetzt auch in Österreich zu einer Dachorganisation für seltene Erkrankungen zusammenschließen.

Ein nachahmenswertes Beispiel für eine aktive Patientenvertretung ist Eurordis, eine nicht staatliche patientengesteuerte Allianz, die 492 Patiententenorganisationen in mehr als 46 Ländern vertritt. Eurordis hat sich eine Stimme verschafft, die nicht nur bei allen einschlägigen Entscheidungen gehört wird, sondern leistet auch höchst effektive Lobbyarbeit.

Generaldirektor Yann Le Cam rutschte, wie viele der Aktivisten, über seine persönliche Geschichte in eine neue Karriere. Seine Tochter Colleen wurde mit Zystischer Fibrose geboren, einer Stoffwechselerkrankung, bei der zäher Schleim die Lunge und die Bauchspeicheldrüse verstopft. „Meine Frau war so verzweifelt, dass sie das Baby ein Jahr lang nicht ansehen konnte“, erzählt Le Cam. „Wir wussten nicht, was die Diagnose bedeutet, was unsere Chancen sind, wo wir die besten Ärzte finden. Alles, was wir hatten, war Unsicherheit, Unwissenheit und Todesangst.“ Für Colleen, mittlerweile 21, gibt es nach wie vor keine Heilung. „Dennoch hat sich für uns alles geändert“, sagt Le Cam. „Vor 20 Jahren hatte man nicht einmal einen Begriff davon, was es bedeutet, mit einer seltenen Krankheit zu leben.“

„Orphan-Drugs“

Mittlerweile haben auch die Pharmafirmen den Bereich für sich entdeckt. Galten Medikamente, die vielleicht 200 Patienten nutzen konnten, lange als wirtschaftlicher Nonsens, ermuntert das Auslaufen vieler Patente auf pharmazeutische Bestseller die Firmen, neue Forschungsgebiete zu betreten und sich an „Orphan-Drugs“ (Medikamente für einen winzigen Markt) zu versuchen.

Für Betroffene wie Lena sind diese Bemühungen viel mehr als nur graue Theorie. In der Praxis werden dadurch die ohnedies schwierigen Lebensumstände von Menschen mit seltenen Krankheiten verbessert. „Patienten mit seltenen Krankheiten sind nicht länger isoliert. Sie leben ein längeres und auch ein besseres Leben“, sagt Yann Le Cam. „Und sie dürfen die Hoffnung haben, dass dies erst der Anfang ist.“ Vor allem aber hören sie die eine Botschaft, die sie und ihre Angehörigen dringender brauchen als alles andere: „Du bist nicht allein.“

Rat & Tat im Netz

In Österreich kann man sich an die nationale Ausgabe von Orphanet wenden (orphanet-austria.at). Oder gleich an Orphanet (www.orpha.net), wo 6000 seltene Erkrankungen gesammelt wurden. Die Plattform gibt Auskunft über Behandlungszentren, Selbsthilfegruppen in den jeweiligen Ländern, Symptome und Krankheiten.

Debra ist eine der vielen Selbsthilfegruppen für spezifische seltene Krankheiten, erreichbar unter debra-austria.org.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2011)

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