Russlands Wutbürger proben den Aufstand

Protest: Russlands Wutbürger proben den Aufstand
Protest: Russlands Wutbürger proben den Aufstand(c) REUTERS (Sergei Karpukhin)
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Aus Ärger über Betrug bei den Parlamentswahlen machte Russlands Opposition mobil. Allein in Moskau gingen 100.000 Menschen gegen Premier Putin auf die Straße - die größte Demonstration seit zwei Jahrzehnten.

Wer jahrelang keine Gelegenheit zum Üben gehabt hat, wirkt beim ersten Auftritt noch etwas ungelenk. Und auch der Rhythmus in den Sprechchören will sich nicht so recht einstellen. „Putin, hau ab!“, skandierte die Menschenmasse noch weitgehend im Takt. „Neuwahlen“, ging auch noch einigermaßen einstimmig. „Russland wird frei sein“, hingegen singt sich schon nicht mehr so leicht, zumal die Lautsprecher zu leise waren. Und wer bei einer epochalen Demonstration gegen ein autoritäres Regime „Das ist unsere Stadt“ anstimmt, braucht Berater.

An solchen Kinderkrankheiten freilich hat sich am Samstag niemand gestoßen. Was gestern an den Tag gelegt wurde, hatten Russlands Straßen seit dem Beginn der 1990-er Jahre nicht mehr gesehen. Auf einmal ging es nicht mehr zum Weihnachtsshopping ins Einkaufszentrum, das zum Symbol des ersten und apolitischen Wohlstandsjahrzehnts in der russischen Geschichte geworden war. Nein, zur Rückeroberung der eigenen Würde auf die Straße strömten die Massen. Allein in Moskau haben laut Organisatoren fast 100.000 – und selbst laut bescheiden schätzenden Behörden 30.000 Menschen – gegen die Fälschungen bei den Parlamentswahlen vom vorigen Sonntag demonstriert. Sie haben sich selbst und die Machthaber einmal mehr daran erinnert, dass das von der Korruption und Autokratie belastete „russische Volk keinen bestimmten Siedepunkt hat, sondern ohne jegliche Vorwarnung in einen anderen Aggregatzustand wechselt“, wie die Publizistin Julia Latynina, anmerkte.

„Putin kaputt!“ Hubschrauber ließen die Machthaber über der Menge auf dem Moorplatz, einen Steinwurf vom Kreml entfernt, kreisen. „Sehen Sie, das ist das Symbol des ganzen Dreckregimes“, empört sich ein Mann Ende 50: „Warten Sie nur, Putin wird sich nicht bis zum März halten“. „Putin kaputt“, diese Wunschlosung prangt auf der Mauer am Rande des Platzes, der sich im Laufe des Nachmittages immer mehr ins Weiß des Schneetreibens hüllt. „Der Kreml hat Angst gekriegt. Wenn er nichts unternimmt und die Wahlfälscher nicht anklagt, wird die Sache früher oder später explodieren“, meint Andrej. Der 45-jährige Anwalt war schon am Montag, als erst ein paar Tausend Leute demonstriert hatten, dabei gewesen. Dass er heute sogar seinen Geburtstag auf der Straße verbringt, ist alles andere als selbstverständlich. „Aus meinem Bekanntenkreis bin ich der einzige“, erklärt er: „Sie alle teilen zwar meine Meinung, aber sie haben doch Angst.“

Zum Teil verwundert dies nicht. Gerade in den vergangenen beiden Tagen hat sich der Geheimdienst offensichtlich intensiv in die Bloggerszene eingemischt. Hat dort das Gerücht gestreut, dass sogar gefürchtete Einsatzkräfte und Schlägertrupps aus Tschetschenien bereitstünden, um aufzuräumen. Am Ende fuhren die Behörden zwar ganze 52.000 Sicherheitskräfte auf. Aber im Unterschied zum Wochenbeginn verhielten sie sich völlig zurückhaltend. Dies angesichts der Tatsache, dass unter den Demonstranten durchaus auch gewaltbereite Gruppen waren. „Ich bin zwei Mal vorbestraft“, erzählt etwa der 27-jährige Sergej, der sein Gesicht bis auf die Augen verhüllt hat, um von der Polizei nicht identifiziert zu werden. „Ich würde dieser Clique an der Macht die Kehle durchschneiden“. Gerade die gewaltbereiten Nationalisten waren jene Gruppen, die ihren Protest gegen das Regime im vergangenen Jahr am offensten und auch in Pogromen dargelegt haben. Dass sie jetzt gemeinsam mit der neuen Mittelschicht und gemeinsam mit Ultralinken gegen die Wahlfälschungen auftreten, ist teilweise der Grund, warum der Massenprotest noch keine einheitlichen Losungen und keine allgemein akzeptierte Führungsfigur hervorgebracht hat.

Bunte Oppositionslandschaft. Die Heterogenität unter den Demonstranten spiegelt sich in der politischen Oppositionslandschaft wider. In der Tat sind nicht nur die autoritären Machthaber Hindernis für eine demokratische Entwicklung, sondern auch die Opposition, die sich bis heute nicht ausreichend hat positionieren müssen und nun vor einer Neudefinition stehen.

Von der Oberfläche her war im vergangenen Jahrzehnt nicht immer auszumachen, was sich hinter dem Allerweltswort Opposition so alles tummelt. Wer beim System in Ungnade fiel, galt schnell als Kremlkritiker. Wer nie zum Establishment des Systems gehörte, ohnehin, obwohl er vielleicht nur indifferent war. Schließlich auch all jene, die sich unter dem Dach einer Oppositionspartei im Parlament wiederfanden, obwohl sich gerade diese Parteien so sehr an den Kreml schmiegten oder von ihm kontrolliert wenn nicht gar gegründet waren, dass sie maximal als systemkonforme Opposition bezeichnet werden können: Die Kommunisten, die nationalistische LDPR des Politrabauken Schirinowski und die Gerechtigkeitspartei.

Sie alle drei haben bei der Protestwahl vom Sonntag der dominanten Kremlpartei „Einiges Russland“ (ER) massiv Stimmen gekostet. Und dennoch sind diese drei Parteien nicht Träger der jetzigen Proteste. Zwar beginnen sich einige Parteimitglieder hinauszulehnen, weil sie das ehrliche Anliegen der Bürger vernehmen und bei drehendem Wind zur Stelle sein wollen. Die Erstkollektoren des diffusen Unmutes in der Bevölkerung waren jedoch Vertreter der Systemkritik.

Zwei der namhaftesten von ihnen wurden daher zu Beginn der Woche ins Gefängnis gesteckt: Sergej Udalzov und Alexej Navalny. Beide Jungfamilienväter erlangten Berühmtheit auf ihre Art. Udalzov, 34-jähriger Jurist und von Jugend an ultralinker „Berufsrevolutionär“, wurde wegen vielfacher Verhaftungen von Amnesty International als Gewissenshäftling anerkannt. Ein ungleich größeres Renommee erlangte der 35-jährige Jurist Navalny, der mit einigen Aktien in russische Staatsfirmen einkaufte und mit dem Pochen auf Transparenz konkrete Korruptionsfälle aufdeckte. Er, der bei den Liberalen groß geworden ist und mit der Qualifizierung der Kremlpartei ER als „Partei der Gauner und Diebe“ die am weitesten verbreitete Losung dieser Wahl geschaffen hat, ist insofern auf dem Radar der Behörden, weil er rhetorisch brillant den sozialen Protest gegen die Korruption mit dem Nationalismus kombiniert.

Von Anfang an war der aktive Protest auch von jungen Künstlern getragen, etwa von der Petersburger Künstlergruppe „Vojna“ („Krieg“), die nun als Co-Kurator der Berliner Biennale eingeladen, aber teils auch zur Fahndung ausgeschrieben sind, weil sie vor Monaten Einsatzkräfte mit Urin angeschüttet haben. Zum heterogenen Gemisch der Protestanführer gehören auch Vertreter jeglicher zivilgesellschaftlicher Bewegungen.

Überhaupt formiert sich der Unmut stark in einer jüngeren und gebildeten Schicht, einer Schicht, die mit dem Wirtschaftsboom unter Putin zu Wohlstand gekommen war, nun aber auch politische Mitsprache und Überwindung der Beamtenwillkür fordert. Die blitzartige Reaktion der jungen Aktivisten und die Tatsache, dass der große Unmut in der Bevölkerung nach einer organisierten Plattform sucht, hat sogar jene überrascht, die vor oder zu Beginn von Putins Amtszeit teils noch hohe Posten hatten und seither Galionsfiguren des liberalen Protests gegen waren: Die Mittfünfziger Ex-Regierungschef und Ex-Vizepremier, Michail Kasjanov und Boris Nemzov, von der Bewegung „Solidarnost“. Nun haben sie noch schnell reagiert, organisieren vorne mit. Aber auch das Volk ist skeptisch geworden und fürchtet eine voreilige Vereinnahmung durch sie. Das Fehlen einer einheitlichen Oppositionsfigur und einer klaren Strategie bleibt daher als Pferdefuß.

Ein neuer Held. Wie auch immer die kritischen Minuten für Russland ausgehen: Ein neuer Held hat sich gezeigt: Pavel Durow, 27-jähriger Gründer der Internetplattform „V Kontakte“ („Im Kontakt“), des russischen Pendants zu Facebook. Der Petersburger hatte sich am Donnerstag geweigert, auf Bitte des Geheimdienstes FSB hin, die Kontakte der Oppositionsgruppen zu schließen. Am Freitag bekam er die Vorladung zur Staatsanwaltschaft. Zum ersten Mal in der russischen Geschichte nämlich war das soziale Netzwerk im Internet die Plattform zur Organisation der Demonstrationen. Die nächste ist für den 24. Dezember fixiert.

Alexej Navalny
hat sich der Aufdeckung von Korruption verschrieben. Die Kremlpartei bezeichnet er als „Partei der Gauner und Diebe“.

Pavel Durov
gründete die Internetplattform „V Kontakte“, das russische Pendant zu Facebook. Er steht im Visier der Behörden, weil sich Oppositionelle über seine Plattform zum Protest verabredeten.

Boris Nemzov
gehört der Oppositionsgruppe „Solidarnost“ an. Unter Präsident Boris Jelzin war er Vizeregierungschef.

Wladimir Putins Kreml-Partei „Geeintes Russland“ gewann am 4.Dezember bei der Duma-Wahl 238 der insgesamt 450 Mandate, um 77 Sitze weniger als bisher. Die Kommunisten kamen auf 92 Sitze, „Gerechtes Russland“ auf 64 und die Ultranationalisten auf 56 Mandate.

Regierungsgegner beklagen massive Wahlfälschungen. OSZE-Beobachter sprachen von Unregelmäßigkeiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2011)

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