Russlands starker Mann steckt im Dilemma

(c) AP (Mikhail Metzel)
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Die Massendemonstration am Wochenende haben in Russland eine neue Phase eingeläutet. Sowohl Machthaber als auch die Opposition stehen jetzt vor der schwierigen Frage: Wie sollen die nächsten Schritte aussehen?

Weil in Russland im Unterschied zu Westeuropa noch niemand auf die Idee gekommen ist, eine Sonntagszeitung auf den Markt zu bringen, wird der publizistische Diskurs über die größten Demonstrationen seit 20 Jahren erst heute und morgen richtig einsetzen. Wo immer man freilich am Sonntag in Moskau hingekommen ist, überall gab es nur ein einziges Gesprächsthema: Wie kam es, dass ein elf Jahre lang apolitisches Volk sich am Samstag plötzlich zu Zehntausenden auf die Straße begeben hat, um nach den üblichen Fälschungen bei den Parlamentswahlen vom 4. Dezember für seine Würde einzustehen? Ungleich schwieriger aber die nächste Frage: Wie werden die autoritären Machthaber, die sich bisher gegen eine Kurskorrektur resistent verhalten haben, reagieren?

Der Premier auf Tauchstation

Schon am Samstagnachmittag waren im Gebäude des Geheimdienstes FSB auffällig mehr Büros beleuchtet, als dies sonst der Fall ist. Premier Wladimir Putin selbst jedoch, primus inter pares von Aufsteigern aus diversen nationalen Sicherheitsinstitutionen, war dem Vernehmen nach nicht in Moskau und wird heute vorerst einmal einen neuen Atommeiler 200 Kilometer nordwestlich von Moskau eröffnen.

Reagiert auf die Massendemonstration, die der Staat von immerhin 52.000 Sicherheitsbeamten hatte begleiten lassen, hat am Sonntag nur Kremlchef Dmitrij Medwedjew: Er teile die Statements der Demonstranten nicht, veranlasse aber, Berichten über Wahlfälschungen nachzugehen, erklärte er. Zuvor hatte Putins Sprecher Dmitri Peskov mitgeteilt, dass es sich um einen „demokratischen Protest eines Teiles der Bevölkerung“ gehandelt habe: „Wir respektieren den Standpunkt der Demonstranten, wir hören, was gesagt wird, und wir werden ihnen weiterhin zuhören.“

Spielt Putin auf Zeit?

Zuhören ist das Eine. Aber wie reagieren, nachdem die Regimegegner schon am 24. Dezember wieder auf die Straße gehen und in ihrer Resolution eine Wahlwiederholung, die Absetzung des Leiters der Wahlkommission und die Freilassung der politischen Gefangenen fordern? Am wahrscheinlichsten ist, dass Putin kosmetische Veränderungen vornimmt, einige Fälle von Wahlfälschungen aufdecken lässt, um den Unmut im Volk zu kanalisieren, ansonsten aber auf Zeit spielt und am System nichts ändert. „Er wird die Erfüllung der Forderungen hinauszögern“, erklärt Lilia Schewzowa, Innenpolitikexpertin auf dem Moskauer Carnegie-Institut: „Aber das führt zu neuen Protesten, und seine Macht wird weiter delegitimiert.“

Dass die Proteste schon in den nächsten Wochen zunehmen könnten, glaubt Sergej Petrov, Abgeordneter der Gerechtigkeitspartei, nicht: „Aber weil bei den Präsidentenwahlen im März sicher wieder gefälscht wird, werden noch mehr Leute auf die Straße gehen“, sagt er zur „Presse“.

Schon das zurückhaltende Auftreten der Polizei am Samstag und der beispiellose Schritt, die Proteste im Staats-TV zu zeigen, werden als Hinweise gedeutet, dass Putin den Protest derzeit taktisch klug nicht anfachen, sondern durch dosiertes Entgegenkommen zum Abflauen bringen will. Parallel dazu dürfte daran gearbeitet werden, die außerparlamentarischen Regimegegner, die den Protest gemeinsam tragen, obwohl sie heterogen sind, geschickt gegeneinander auszuspielen und zu spalten. „Es droht die Falle von 1991“, sagt Schewzowa: „Das Volk war bereit, aber die Opposition nicht.“

In der Tat haben die Anführer der Opposition Probleme in der Konsensfindung. Außerdem befinden sich charismatische Figuren seit einer Woche hinter Gittern. Das erinnert ansatzweise an das diktatorische Weißrussland, dessen Regime die Kundgebungen gegen die Präsidentenwahlen vor einem Jahr niederprügeln und die Oppositionschefs teils bis heute ins Gefängnis stecken ließ. Zwar hätte das große Russland seitens Europas keine Sanktionen zu fürchten wie Weißrussland. Aber auch unabhängig davon gilt eine härtere Gangart der Machthaber als nicht wirklich wahrscheinlich: „Wenn sie hätten provozieren wollen, hätten sie es schon getan“, meint Petrov: „Und die Massen auf der Straße sind ein Kapital gegen die Diktatur.“

„Eingeständnis der Schwäche“

Und doch steckt der bislang so starke Mann Putin im Dilemma, weil sein Nimbus des Sakrosankten angekratzt ist. Da ist nicht nur der drohende Konjunktureinbruch, weshalb der Internationale Währungsfonds Russland nun nur noch 3,5 statt zuvor 4,1 Prozent Wirtschaftswachstum 2012 prognostiziert und daher zum Sparen rät, während Putin die Ausgaben vor der Wahl stark erhöht. Da ist auch die Möglichkeit, dass ihm im März bei ehrlichen Wahlen erstmals eine Stichwahl droht und er sich in TV-Debatten mit einem Wettbewerber messen müsste. „Das wäre für ihn ein Eingeständnis der Schwäche“, meint Schewzowa. „Würde Putin Schwäche zeigen, begänne seine Umgebung, sich nach einem neuen Frontman umzusehen“, meint Petrov: „Putin hat derzeit mehr Probleme, als wir alle zusammen.“

Auf einen Blick

Mehr als 100.000 Menschen gingen am Wochenende allein in Moskau gegen die Führung um Premier Putin auf die Straße. Auch in anderen Städten wurde demonstriert. Die Menschen protestierten vor allem gegen Fälschungen bei der Parlamentswahl. [AP]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2011)

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