Japan: Regierung hält Fukushima für sicher

(c) AP (David Guttenfelder)
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Alle sechs Reaktoren des havarierten japanischen AKW Fukushima können angeblich komplett und kontrolliert abgeschaltet werden. Umweltschützer sprechen dagegen von einer "bewussten Lüge".

Tokio. Die Entwarnung war Chefsache. Premierminister Yoshihiko Noda verkündete am Freitag persönlich, das von Erdbeben und Tsunami am 11. März schwer havarierte AKW Fukushima sei neun Monate danach „stabil und komplett unter Kontrolle“. „Auch bei unvorhersehbaren Zwischenfällen kann die Strahlung am Rand der Anlage jetzt auf einem niedrigen Niveau gehalten werden“, gab der japanische Regierungschef bekannt.

Die teils völlig zerstörten Reaktoren würden keine radioaktive Strahlungen mehr abgeben. Vor einer Kaltabschaltung (Cold Shutdown) werde die Temperatur im Reaktorkern auf weniger als 100 Grad gesenkt. Der Betreiber Tepco bezifferte die Temperatur auf aktuell 70 Grad. Damit sei eine Kettenreaktion technisch nicht möglich. Die radioaktive Strahlenmenge betrage künftig maximal ein Millisievert pro Jahr – etwa so viel, wie die Anwohner vor dem atomaren GAU zulässigerweise ausgesetzt waren.

Was auf den ersten Blick wie ein Meilenstein und ein Sieg japanischer Ingenieurkunst aussieht, stieß schon wenig später auf Skepsis, Zweifel und Widerstand. Japanische Experten gehen nach wie vor davon aus, dass die nuklearen Meiler von Fukushima weiterhin – auch für Naturkatastrophen – anfällig sind und es Jahrzehnte brauchen wird, bis das AKW endgültig stillgelegt werden kann. Auch Tepco bestreitet nicht, dass der Abschaltungsprozess äußerst mühselig wird und mindestens 30 Jahre in Anspruch nehmen wird.

Irreführung der Bevölkerung

Sicher ist auch nicht, ob Regierung, Betreiber und Atomexperten mit „Cold Shutdown“ wirklich dasselbe meinen. Umweltschützer beklagen eine Irreführung der Bevölkerung oder sogar noch Schlimmeres. „Hier von Kaltabschaltung zu sprechen, grenzt an eine bewusste Lüge“, erklärte Reinhard Uhrig, Atomexperte von Global 2000, der Nachrichtenagentur dpa. Die bei der Havarie geschmolzenen Brennelemente hätten sich durch die Reaktorböden gebrannt und dort zu Klumpen verfestigt. Dort wären sie angeblich noch etwa 3000 Grad Celsius heiß und wären damit von der Definition „sicherer Zustand“ weit entfernt.

So weit man bisher weiß, war das Kühlsystem des Kernkraftwerks bei dem verheerenden Jahrhunderterdbeben der Stärke 9 am 11. März und dem unmittelbar darauf folgenden Tsunami so schwer beschädigt worden, dass die Brennstäbe in den Reaktoren 1 bis 3 vollständig schmolzen. Hilflos versuchten Reparaturtrupps die Reaktorkammern mit Feuerlöschwasser zu kühlen. Radioaktiv verseuchte Brühe gelangte in den Pazifik und ist auch heute noch nicht vollständig entsorgt. Erst Anfang Dezember trat wieder durch einen Betonriss 300 Liter radioaktiv kontaminierte Flüssigkeit aus. Dieses Leck konnte erst nach vier Stunden abgedichtet werden.

Aber die Politik braucht jetzt gute Nachrichten. Zwischen 80.000 und 100.000 Menschen flüchteten nach der Katastrophe aus einer von der Regierung verhängten Sperrzone von 20 Kilometer Radius rund um das AKW. Die meisten von ihnen leben immer noch bei Verwandten oder in Notunterkünften.Die Regierung möchte sie dringend nach Hause bringen. Das ist aber nur möglich, wenn man der betroffenen Region den Stempel „unbedenklich“ aufdrückt. Davor aber muss die Verbotszone eigentlich dekontaminiert werden.

Bewohner tragen selbst Erde ab

Keiner weiß, wie das gehen soll. „Japan hat keine legalen Richtlinien für ein radioaktives Desaster“, klagt der Bürgermeister von Fukushima, Takanori Seto. „Aber die Gemeinden müssen jetzt mit der Lage trotzdem klarkommen.“ So schrubben Bewohner die Dächer und tragen Erde ab, die strahlen könnte. Dann geht es ein paar Tage besser – und plötzlich ist die Strahlung wieder da. Gegen Luft, Wind und Regen kommt man nicht an.

Es sei weniger eine Frage, die Radioaktivität zu beseitigen, sagt Showichi Ogawa von der Stadtverwaltung. „Es ist viel mehr die Aufgabe, mit der Strahlung zu leben.“

Lexikon

Kaltabschaltung ist bei AKW der Zustand des abgestellten Reaktors, der durch Kühlwasserzufuhr so lang gekühlt wird, bis die Nachzerfallswärme (wird von noch anhaltenden Zerfallsprozessen emittiert) ganz abgeführt wird und das System irgendwann auch ohne weitere Kühlung unter 95° C bleibt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2011)

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