Kalter Putsch – oder: Erobern wir die Demokratie zurück!

Gastkommentar. Rating-Agenturen gerieren sich derzeit wie absolutistische Alleinherrscher. Sie treiben Gesellschaften und die Politik vor sich her.

Die Demokratie ist ein fragiles System mit vielen Feinden – vor allem in chaotischen Zeiten. Macht als solche, ohne den mühseligen Prozessen der Mehrheitsfindung, den Abstrichen oder gar Niederlagen, das ist verlockend. Den eigenen Willen unabgeschwächt durchsetzbar zu machen, hat schon etwas für sich.

Entscheidungen ohne Wenn und Aber, mit scheinbar zweifelsfreier Lösungskompetenz, das wiederum verlockt infolge auch die Verunsicherten. Sie folgen den unwidersprochen „Weisen“, die glauben machen wollen, aus dem Chaos zu führen, verzichten als Beitrag für das Gelingen der Rettung auf ihre angestammten Rechte und jubeln – ein bisschen wenigstens – ihren „Rettern“ zu.

Im Normalfall putschen Militärs. Vor lauter Sorge um das Wohl des Landes schalten sie in den verschiedenen Staaten dieser Welt immer wieder die gewählten politischen Entscheidungsträger(innen) aus und setzen sich selbst oder ihre Erfüllungsgehilfen an die Schaltstellen der Macht.

Europaweit erleben wir derzeit aber einen Putsch der völlig anderen Art: Nicht böse Militärs setzen die Demokratie und die gewählten Politiker(innen) ab, sondern sterile, unverdächtige Rating-Agenturen und Börsianer(innen). Mit einer aggressiven Spekulations- und Zinspolitik gegenüber den europäischen Staaten wurden diese in eine umfassende Krise gestürzt.

Börsenkurse bestimmen Politik

Dass diese von genau jenen ausgelöst wurde, die nun strenge Maßnahmen zur Krisenbewältigung einfordern, scheint niemanden zu interessieren. In wenigen Monaten haben Rating-Agenturen, Spekulanten, Banken und die allgegenwärtigen Börsenkurse erreicht, dass sich die europäische nationalstaatliche Demokratie (eine andere gibt es nicht) selbst auflöst.

Sie haben erreicht, dass in Italien anstelle von gewählten Politiker(innen) Expert(inn)en – ohne Legitimierung durch das Volk – die Regierungsgeschäfte führen. Sie haben erreicht, dass soziale Selbstverständlichkeiten und Grundrechte in Frage gestellt werden, dass wir mehr über die Möglichkeiten der Einschränkungen im Sozial-, Kranken- und Pensionssystem diskutieren als über die notwendige Solidarität mit Betroffenen. Sie haben erreicht, dass nicht mehr das Allgemeinwohl die Politik bestimmt, sondern Börsenkurse, die zickige Nervosität der sogenannten „Märkte“ und Vertrauensneigungen nebulöser Investoren.

Ein Staat ist kein Konzern

Wir sind im reichen Europa mit sich ausbreitenden Pauperisierungswellen, mit sinkenden Einnahmen, mit Existenzverlusten ganzer Bevölkerungsgruppen und zunehmender Perspektivlosigkeit konfrontiert. All das wird in Kauf genommen – beinahe widerstandslos. Die Errungenschaften des europäischen – auf den Grundwerten des achtsamen, sozialen Miteinanders – aufbauenden Gemeinwesens werden gegen Bonitätseinstufungen eingetauscht.

Die Rating-Agenturen brauchen nur über eine neue Einschätzung nachzudenken – schon haben sie ihre Ziele erreicht. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht einem weiteren Land mit nachhaltigen Verschlechterungen gedroht wird, wenn es nicht – zur Zufriedenheit der Investoren und der Märkte – agiert.

Demokratie ist die Selbstregierung der Gemeinschaft der Gleichen und nicht ein Erfüllungsgehilfe für die Gewinnmaximierung einiger weniger. Ein Staat ist kein Konzern. Eine Gesellschaft ist kein Unternehmen. Politik und Gesellschaft sind Systeme, die auf Solidarität, Respekt und Achtung des anderen aufgebaut sind. Damit ist nicht die Solidarität im Geldaufbringen zum Wohl der Spekulanten gemeint, sondern jene mit den Menschen, ihren Bedürfnissen, Erwartungen, aber auch Ängsten. Solidarität heißt mit dem anderen fühlen und sich für ihn einsetzen. Auf diesen Grundwerten baut die westliche Demokratie auf.

Niemand hat das Recht, durch blanke Gewinnsucht und schlichten finanziellen Egoismus Gesellschaften in den Abgrund zu treiben, Existenzen von Unzähligen zu zerstören und die Demokratie de facto außer Kraft zu setzen. Die Rating-Agenturen gerieren sich derzeit als absolutistische Alleinherrscher. Sie treiben Gesellschaften und Politiker(innen) vor sich her. Und wir alle lassen dies zu.

Genauso wie über Grund- und Menschenrechte nicht abgestimmt werden kann, genauso darf über die Bonität eines Landes und damit über die Zukunft der jeweiligen Gesellschaft nicht abgestimmt werden. Schon gar nicht von drei Rating-Agenturen, die nur ihren Finanzkunden bzw. den Gewinnern der Krise – wie den Hedgefonds – verpflichtet sind.

Entmachtet die Spekulanten!

Die Forderung, die sich für Europas Bürger(innen) und ihrer legitimen politischen Vertreter(innen) stellt, kann nur die nachhaltige Entmachtung von Spekulanten und Rating-Agenturen sein. Sie haben nicht nur nichts im politischen System der Demokratie verloren, sondern gehören schon gar nicht zu den Alleinherrschern.

Lassen wir die Expert(inn)en zu ihren Expertisen zurückkehren und die Politiker(innen) auf die politische Bühne, und begreifen wir endlich, dass der Neoliberalismus nur für sehr wenige ein heilbringendes System ist. Demokratie ist mehr als ein Ratingergebnis und bedeutet vor allem die Verpflichtung gegenüber den Menschen und nicht gegenüber Märkten. Erobern wir uns die Demokratie wieder zurück!

Zur Autorin


E-Mails an: debatte@diepresse.comBarbara Serloth ist Politikwissenschaftlerin und lebt in Wien. Zuletzt veröffentlichte sie „Entpolitisierung der Politik“ und „Zu bunt? Über nationalstaatliche Politik im entgrenzten Zeitalter“. Demnächst erscheint der Band „Abgeordnete in der österreichischen Demokratie“ im Studienverlag. Der Beitrag spiegelt ihre Privatmeinung wider. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.