Ungarn ist noch nicht in der Gegenwart angekommen

So gut wie alle Reformen von Viktor Orbán haben den Zweck, Geld für den Wohlfahrtsstaat aufzutreiben. Das entspricht genau dem Wunsch der Wähler.

Wenn sich ein Land neue Spielregeln verpasst, geht das normalerweise nicht ohne eine gehörige Portion Pathos vonstatten. Kein Wunder, denn neben ihrer nüchternen Funktion als juristisches Fundament hat eine Verfassung auch die wichtige Aufgabe, die Quintessenz des nationalen Selbstwertgefühls zu erfassen – so melodramatisch das auch klingen mag. In Ungarn, wo am kommenden Sonntag das neue Grundgesetz in Kraft tritt, wird dieser zweite Aspekt großgeschrieben. In der 26 Punkte umfassenden Präambel werden die „großartigen intellektuellen Schöpfungen“ des ungarischen Volks gepriesen, wird ihr Jahrhunderte andauernder Kampf gegen nicht europäische Aggressoren gelobt und werden jene Kardinaltugenden hervorgehoben, die den Fortbestand der Nation sichern: Loyalität, Glaube, Liebe.

Wer die offiziellen Stellungnahmen zu der neuen Verfassung gehört hat, könnte fast auf die Idee kommen, der Text sei nicht von Normalsterblichen erdacht, sondern vom Fatum höchstselbst diktiert worden – ein unerschütterliches, ewiges Naturgesetz, das, um mit den Worten von Ungarns Staatsoberhaupt Pál Schmitt zu sprechen, „wie der in die Erde gesetzte Samen darauf wartet, zum Stängel hinaufzusprießen“.

Der Haken an dieser Analogie ist, dass sie eines ausgeklammert lässt: An welcher Stelle er in die Erde gesetzt wird, bestimmt nicht der Samen, sondern der Gärtner. Und genau das führt schnurstracks zum Kern des Problems: Seit Viktor Orbán vor eineinhalb Jahren in die Kanzlei des Premierministers zurückgekehrt ist, scheint er sich allzu sehr in der Rolle des strengen Botanikers zu gefallen, der in seinem Garten nach Belieben Setzlinge arrangiert, Nutzpflanzen zu Unkraut erklärt und zwischen den Gemüsebeeten jätet, was das Zeug hält.

Doch trotz all des schicksalhaften Pomps und Traras in der Präambel ist die neue ungarische Verfassung nichts anderes als ein Gesetz, das von der Regierungspartei Fidesz mit der Zweidrittelmehrheit beschlossen wurde – und das mit derselben Mehrheit wieder abgeändert werden kann.

Dass Orbáns Verfassung so ihre Schwachstellen hat, um es einmal vorsichtig auszudrücken, ist sattsam bekannt. Als problematisch gilt etwa der Passus, der allen Ungarn ohne Wohnsitz in ihrem Heimatland das Stimmrecht gewährt – was das republikanische Credo„no taxation without representation“ auf den Kopf stellt. Bedenken im In- und Ausland gibt es auch im Zusammenhang mit anderen Gesetzen im Verfassungsrang: etwa dem Mediengesetz oder der geplanten Einschränkung der Unabhängigkeit der Notenbank.

Doch es sind nicht die verfassungsrechtlichen Verrenkungen des Viktor Orbán, die Ungarn ins internationale Abseits gedrängt haben und den Weg aus der anhaltenden Wirtschaftskrise versperren. Das wahre Problem ist die mentale Zwangsjacke, aus der sich das ungarische Wahlvolk bis dato nicht befreien konnte. Wenn Meinungsforscher richtigliegen, dann glauben fast 60 Prozent der Ungarn daran, dass das Leben im Zeitalter des real existierenden Sozialismus besser war als anno 2011. Das ist zu einem gewissen Teil verständlich, denn Ungarn hatte vor dem Fall des Eisernen Vorhangs den Ruf, die bequemste Baracke im sowjetischen Straflager zu sein. Der Gulaschkommunismus des János Kádár war mit einer Prise Privatwirtschaft gewürzt und ersparte den Ungarn den ökonomischen Kollaps, den etwa die Balten durchmachen mussten. Eine Schocktherapie war nicht notwendig, das System musste lediglich nachjustiert werden.

Das rächt sich nun. Zumindest was das Verhältnis zwischen Staat und Markt anbelangt, sind die Ungarn noch nicht in der Gegenwart angekommen. So gut wie alle Reformen von Orbán – von der Sonderabgabe für Banken bis zur Verstaatlichung der privaten Altersvorsorge – zielen darauf ab, den wuchernden Wohlfahrtsstaat mit Steuergeldern zu düngen. Genau das wünscht sich der Souverän – auch auf die Gefahr hin, dass die restliche Wirtschaft dabei sukzessive in ein Trümmerfeld verwandelt wird.

Angesichts der Tatsache, dass die Legislaturperiode noch bis 2014 dauert, bleibt nur die Hoffnung, dass EU und IWF Orbán den Schlüssel zum Geräteschuppen wegnehmen.

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2011)

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