Neujahrskonzert mit Jansons für Globetrotter

(c) ORF (ALI SCHAFLER)
  • Drucken

Philharmoniker: So polyglott wie diesmal gab sich Wiens Meisterorchester am 1.Jänner noch nie. Kenner kamen aus dem Staunen nicht heraus.

Zum zweiten Mal trat der Lette Mariss Jansons am 1.Jänner an die Spitze der Wiener Philharmoniker. Merklich entspannter als 2006 unternahm er mit dem Orchester eine Reise um die halbe Welt – im Zeichen des Dreivierteltakts, versteht sich.

Dass auch Musik von Tschaikowsky auf dem Programm stand, hat nicht nur mit dem künstlerischen Werdegang des Maestros zu tun, der in St. Petersburg (als es gerade Leningrad hieß) seine musikalische Feuertaufe empfangen hat. An der Wiege von Tschaikowskys Erfolg steht ja, was viele nicht wissen, ein Konzert der Wiener Strauß-Kapelle. In Pawlowsk erklang anlässlich einer der legendären Sommeraufenthalte der Wiener Walzer-Musikanten die erste öffentliche Aufführung einer Komposition des russischen Nationalmeisters.

Grund genug, zwei Fragmente aus dessen Ballettmusik zu „Dornröschen“ ins Programm des Neujahrskonzerts aufzunehmen. Zumal gerade Walzer im Werk Tschaikowskys eine zentrale Rolle spielen – bis hinein in sein symphonisches Schaffen. So waren denn zum Jahresauftakt 2012 musikalische Studien möglich, die Unterscheidung zwischen einem russischen und einem Wiener Walzer zu erkennen.

Das schwebende Gleichmaß, das beim „Dornröschen“-Walzer nötig ist – dessen ätherischen Charakter das eingangs gespielte, mit metrischen Balance-Akten kokettierende „Panorama“ vorwegnahm –, würde bei einem Hietzinger oder gar Leopoldstädter Tanzvergnügen im Biedermeier für Irritation gesorgt haben. Über die historische Entwicklung des wienerischen Rhythmusgefühls wie des dazugehörigen Stimmungsbarometers legten die Philharmoniker heuer übrigens auch Rechenschaft ab.

Als die Kaiserhymne müde wurde

Gleich zu Beginn des Vormittags kamen Kenner aus dem Staunen nicht heraus. Klänge des Radetzky-Marschs und des Donauwalzers, die sollten doch dem notorischen Zugabenteil des Wiener Medienereignisses vorbehalten bleiben. Jetzt waren sie zu vernehmen, raffiniert verbrämt und neu geschichtet, kombiniert mit Anleihen aus dem Rákoczy-Marsch und der Kaiserhymne, denn man zollte der Geschichte Tribut: Österreichische Zeitbilder höchst unterschiedlichen Zuschnitts dirigierte Mariss Jansons zum Auftakt – auf einen „Vaterländischen Marsch“ aus der Werkstatt der Brüder Johann und Joseph Strauß, mit dem man anno 1859 zum unglücklichen Krieg mit den Italienern aufrief, folgten Johanns „Rathaus Ball-Tänze“, komponiert zur Eröffnung der Festsäle im Friedrich-Schmidt-Gebäude.

In beiden Stücken klingt das „Gott erhalte“ an, affirmativ im Marsch, wehmütig und nur noch als müde Schimäre im späten Walzer. Die Schaffenskraft des Walzerkönigs war längst gebrochen, er sprach, scheint's, zu festlichen Anlässen nur noch in Zitaten. Und der Walzer als musikalische Form („Dornröschen“ war längst komponiert!) hatte seine Metamorphose vom Tanzstück zur symphonischen Dichtung schon absolviert.

Dass Mariss Jansons die spätere Variante bevorzugt, liegt in seinem Naturell. Selbstverständlich ist die Introduktion von Joseph Strauß' „Delirien“ bei ihm in besten Händen. Und selbstverständlich inszeniert er die ersten Momente des allzu berühmten „Donauwalzers“ wie die verwandten Momente des „Delirien“-Walzers als groß aufrauschendes Tongemälde. Beide Stücke sind bezeichnenderweise im selben Jahr publiziert, 1867, nach der bitteren Niederlage von Königgrätz – womit sich in diesem Konzert der mit dem Militärmarsch von 1859 begonnene Kreis zu schließen schien.

Die Philharmoniker nutzen für Jansons ihr ganzes, eminentes Klangpotenzial, um die illustrativen Effekte der genialen Partituren – beide Strauß-Brüder komponierten ja ganz auf der Höhe der Zeit von Liszt und Wagner – farbenprächtig zu illuminieren. Und um die Assoziationen zur kulturhistorischen Umwelt vollständig zu machen, wählte man in diesem an Zitaten so reichen Programm auch noch pittoreske Stücke aus Dänemark (Lumbyes „Eisenbahn Dampf Galopp“), Strauß' „Persischen Marsch“ – und Opernparaphrasen wie die etwas brachiale „Carmen“-Quadrille von Eduard Strauß, die an das mögliche Staatsopern-Debüt von Mariss Jansons erinnerte, das vor zwei Jahren krankheitshalber unterbleiben musste.

Opernklänge von „Carmen“ bis „Tell“

Der virtuose „Sperl-Galopp“ von Strauß Vater hingegen brachte den einstigen, von Beethoven beklagten „Rossini-Rummel“ noch einmal zur quirligsten Entfaltung: Mit so hinreißend sicherer Hand wusste der Ahnherr der wienerischen Tanzmusik Balletteinlagen aus einer Grand Opéra wie „Wilhelm Tell“ aus schweizerischen Gefilden an die Donau zu transferieren – das darf dann als so etwas wie eine subtile habsburgische Rache gelten, ohne dass Außenstehende etwas davon bemerkt haben müssten.

Man nimmt es im Gegenzug ja hierzulande seit vielen Jahren auch gelassen hin, dass in teutonischer Bierzeltmanier zum Radetzky-Marsch gepascht wird; und dass die Dirigenten auch noch die Dynamik dazu vorgeben. Zu aufgeheizt ist in diesem Moment im Goldenen Musikvereinssaal die Atmosphäre, als dass es sich lohnte, gegen diese Barbarei zu opponieren.

Immerhin haben die Musiker jede Ovation – auch die „stehenden“, die man Mariss Jansons zum Abschluss darbrachte – verdient: Allein die Ausdruckskraft, die sie in raffinierte Pièçen wie Joseph Hellmesbergers „Danse diabolique“ legen, ist bejubelnswert. Und dass man zwecks medialer Aktivierung des Kindchenschemas auch die Sängerknaben wieder einmal ins Haus gebeten hat, wollen wir den Zuschauer-Millionen gönnen wie den Schöpfern der Neutextierungen von „Tritsch Tratsch“ und „Feuerfest“ ihre Tantiemen – auch wenn man kein Wort vom Text verstanden hat. Prosit!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.01.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Neujahrskonzert: Höchste Zuseherzahlen seit 2003
Medien

Neujahrskonzert: Höchste TV-Quoten seit 2003

1,136 Millionen Österreicher sahen am 1. Jänner den Klassikevent. Der nationale Marktanteil betrug 64 Prozent. Das ist der beste Wert seit 2003.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.