Zehn Jahre Guantánamo: Einmal Häftling, immer Häftling

(c) AP (Brennan Linsley)
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Nach jahrelangem Gewahrsam ohne Verurteilung leiden viele Ex-Gefangene noch immer am „Terroristen“-Stigma. Entschädigung haben sie von den Vereinigten Staaten bis heute nicht erhalten.

Dass die Welt eine andere geworden ist, merkt man oft an den kleinen Details. Murat Kurnaz, der 2006 nach mehr als vier Jahren Gefangenschaft im US-Lager Guantánamo freigelassen wurde, fielen die Mobiltelefone mit Farbdisplay und integrierten Kameras auf. „Und die Kleidung hatte sich geändert: Es gab T-Shirts mit Schriftzügen, Pailletten blitzten mir von Kleidungsstücken entgegen.“

Aber nicht nur die Welt um ihn herum war verändert, auch seine eigene stand Kopf. Seine türkische Frau, die er kurz vor seiner Verhaftung in Pakistan geheiratet hatte, hatte sich in Abwesenheit von ihm scheiden lassen; seine Großmutter war gestorben. Kurnaz, der junge Deutschtürke mit dem Rauschebart, den Medien der Unschuldsvermutung zum Trotz den „deutschen Taliban“ nannten, wurde von Jänner 2002 bis August 2006 in dem Gefangenenlager festgehalten. Ohne Anklage, ohne Schuldspruch und ohne zu wissen, ob er jemals freikommen würde. Eine ganz typische Geschichte aus Guantánamo.

Verurteilungen: Dürftige Bilanz

Genau zehn Jahre, nachdem die Regierung von George W. Bush vier Monate nach den Anschlägen von 9/11 die ersten 20 Gefangenen in das Lager überstellen ließ, ist die Bilanz der Verurteilungen dürftig: Insgesamt 779 Insassen waren interniert, seit 2009 sind keine neuen Insassen mehr in das Camp eingeliefert worden. Erst sechs Gefangene wurden von einer Militärkommission schuldig gesprochen, einer von einem Zivilgericht.

Manfred Nowak, ehemaliger UN-Sonderbeauftragter für Folter, hält Häftlinge wie Kurnaz, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren, für die prototypischen Guantánamo-Insassen. „Die wenigsten, die einsitzen, können für die Anschläge von 9/11 verantwortlich gemacht werden. Die meisten werden nicht dort festgehalten, weil die Amerikaner von ihrer Schuld überzeugt sind, sondern weil es schwierig ist, sie anzubringen.“

Anzubringen, das heißt: Drittländer zu finden, die Ex-Insassen aufnehmen möchten; die Heimatländer zu überreden, ihre Staatsbürger zu reintegrieren. 171 Männer sitzen heute noch ein, die meisten davon aus dem instabilen Jemen. Die Hoffnung, dass die Verwahrungsanstalt in naher Zukunft geschlossen wird, ist seit Obamas Amtsantritt stetig geschwunden (siehe Artikel unten).

Manfred Nowak, dem die USA als UN-Vertreter den Zugang zum Gefangenenlager verwehrten, hat mit vielen ehemaligen Häftlingen gesprochen. „Das Stigma, ein ehemaliger Guantánamo-Insasse zu sein, verfolgt die Betroffenen noch Jahre nach ihrer Freilassung“, sagt er. Von den USA entschädigt – „bei so einer langen willkürlichen Haft wäre das eine stattliche Summe“ – wurde kein einziger; Opferanwälte haben lediglich Verurteilungen mancher Herkunftsländer der Ex-Häftlinge erreicht, wenn diese etwa falsche Informationen an die CIA weiterleiteten. So erhielt etwa der kanadisch-syrische Ingenieur Maher Arar von Kanada umgerechnet 7,34 Mio. Euro Entschädigung.

Als Folteropfer hätten die Ex-Insassen ein Recht auf Wiedergutmachung – und damit auch psychologische Rehabilitierungsmaßnahmen. Theoretisch. „Das ist aber alles nicht passiert.“ Vielen helfen ihr Glauben und Humor – so wie im Fall von Mustafa Ait Idir.

Der gebürtige Algerier kam als Mitarbeiter einer muslimischen Hilfsorganisation im Bosnien-Krieg nach Sarajewo. Auf Druck der USA erkannten ihm die bosnischen Behörden die Staatsbürgerschaft ab, er war einer der ersten Gefangenen in Guantánamo. Mustafa Ait Idir hat auch drei Jahre nach seiner Freilassung keinen beruflichen Halt gefunden. Helfen soll ihm nun ein Kleinunternehmen: ein Copyshop. Für dessen Gründung sammelt nun der frühere Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Wolfgang Petritsch, Geld. Auf Entschädigung vor Gericht wollen selbst geduldige Diplomaten wie er nicht warten.

Auf einen Blick

Am 11. Jänner 2002 brachten die USA die ersten 20 mutmaßlichen Terroristen nach Guantánamo. Zahlreiche der mittlerweile 779 Gefangenen wurden dort auch gefoltert. Bisher wurden sechs Gefangene von Militärtribunalen verurteilt. Derzeit befinden sich noch 171 Insassen in dem Lager.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2012)

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