Wegen der umstrittenen Gesetzesänderungen droht die EU, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Budapest einzuleiten. Auch die Verhandlungen über dringend fällige Kredite werden vorerst noch auf Eis gelegt.
Brüssel/Budapest/Wien/Aga/Ag. Der Kommission geht mit ihrem Sorgenkind Ungarn langsam die Geduld aus: Bis zum 17.Jänner will die Behörde darüber entscheiden, ob die umstrittene Verfassungsänderung, die am 30.Dezember im Budapester Parlament beschlossen wurde, gegen EU-Recht verstößt. Ist dies der Fall, so könnten mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen die rechtskonservative Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán angestrengt werden. Die Kommission werde ihre Rechte „voll ausschöpfen“, betonte die Sprecherin von Kommissionspräsident José Manuel Barroso, Pia Ahrenkilde-Hansen, am Mittwoch.
Konkret geht es bei der Analyse der neuen Verfassung um die Überprüfung von drei Punkten, über die sich die Kommission besonders „besorgt“ zeigt: die Unabhängigkeit der nationalen Notenbank, die Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten (die neuen Gesetze schreiben für diese Berufsgruppe ein Pensionsalter von höchstens 62 statt bisher 70 Jahren vor, weshalb 274 Richter schon mit Ende dieses Jahres ihre Pension antreten müssen und von der Regierung ersetzt werden) sowie die Unabhängigkeit der nationalen Datenschutzbehörde.
Die für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft zuständige Kommissarin, Viviane Reding, forderte „tatsächliche Änderungen oder eine Aussetzung der neuen Gesetzgebung“. Nur so könne ihren rechtlichen Bedenken Einhalt geboten werden. „Der Ball liegt jetzt im ungarischen Feld“, betonte auch Ahrenkilde-Hansen. Der einfachste Weg sei, wenn die Behörden des Landes die Vorbehalte selbst ausräumten.
Mit dem Rücken zur Wand
Orbán bleibt also noch knapp eine Woche Zeit, um ein Einlenken in der Sache zu signalisieren. Und er steht mit dem Rücken zur Wand, hat die Kommission doch ein entscheidendes Druckmittel: Ungarn ist wegen seiner katastrophalen finanziellen Lage auf schnelle Notkredite von EU und IWF angewiesen. Am Montag wurde bekannt, dass das Haushaltsdefizit 2011 zehn Prozent über den Erwartungen lag. Der Fehlbetrag liegt bei 1,73 Billionen Forint (5,49 Milliarden Euro). Die nationale Währung verlor seit Sommer ein Fünftel ihres Wertes, und selbst kurzfristig kann sich das Land auf dem Geldmarkt nur noch zu Zinsen von fast zehn Prozent neues Kapital leihen. Doch wegen der umstrittenen Gesetzgebung haben EU und IWF die offiziellen Gespräche über allfällige Kreditvergaben vorerst auf Eis gelegt. Die Regierung signalisierte in den vergangenen Tagen daher erstmals Kompromissbereitschaft: „Wir stehen bereit, Gesetze zu ändern, falls es nötig sein sollte“, erklärte Außenminister Janos Martonyi am Dienstag in einem Brief an die Kommission und die EU-Partnerländer.
Defizitverfahren verschärft
Doch schon bahnt sich weiteres Ungemach an: Wegen des übermäßigen Defizits will die Kommission weitere Maßnahmen im Defizitverfahren gegen Ungarn ergreifen. Laut Wirtschaftskommissar Olli Rehn könnte die EU ab 2013 Mittel aus dem Kohäsionsfonds auf Eis legen, sollte das Land nicht umsteuern. Damit würden erstmals die Maßnahmen des Sixpacks für eine Verschärfung des Stabilitätspakts angewandt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2012)