Der Philosoph Peter Sloterdijk eröffnete nach schier endlosen Eröffnungsreden den Kongress über personalisierte Medizin in der Akademie der Wissenschaften in Wien mit einem äußerst geistreichem Vortrag.
„Man teilt die Menschen am besten in zwei Kategorien:“, sagte Peter Sloterdijk, „in solche, die die Menschen in zwei Kategorien teilen, und solche, die das nicht tun. Ich gehöre zur ersten Kategorie, und ich teile die Menschen in Iatrophile und Iatrophobe. Ich selbst bin bekennender Iatrophiler.“
Wenn ein Philosoph nach schier endlosen Eröffnungsreden eines Kongresses seinen Vortrag so geistreich beginnt, hat er schon gewonnen. Vor allem, wenn er vor Ärzten spricht, die natürlich wissen, dass „Iatros“ das altgriechische Wort für Arzt ist. Dieses Wort wiederum kommt von „Archiatros“, was so viel wie „Oberarzt“ bedeutet. Es hat sich gegen das althochdeutsche „Lachi“ durchgesetzt, das man am besten mit „Heiler“ oder „Schamane“ übersetzt.
So hätten sich die zum (von der deutschen und österreichischen Akademie gemeinsam veranstalteten) Symposium versammelten Mediziner wohl nicht gern ansprechen lassen. Und sie freuten sich gewiss, als Sloterdijk ihnen zum Schluss seines funkelnden Vortrags bescheinigte, ihr Metier sei „die letzte Instanz mit dem unbedingten Auftrag, dem Leben nach vorn zu helfen“. Vor hundert Jahren hätten noch Politiker und Mediziner darauf gepocht, dass die Welt „heilungs- und verbesserungsbedürftig“ sei, die Politiker freilich hätten im Lauf des 20. Jahrhunderts die Menschen mit ihren Versuchen, dieses Programm durchzuziehen, zu sehr enttäuscht . . .
Der Arzt kann noch auf Vertrauen bauen. Und auf Erfolge. Sloterdijk bekannte sich dazu, dass er sich bisweilen dem „Vergnügen des Pharma-Shopping“ hingibt („dem Glauben, dass das Heil in materieller Form kommen kann“). Und er erzählte die von Lévi-Strauss überlieferte „Anekdote vom Eingeborenen“, der todkrank in eine Klinik eingeliefert wird und erklärt, ein Zauberer habe ihn verflucht. Als die Klinikärzte ihn geheilt haben, fügt er das so in sein Weltbild: „Der Zauber des weißen Mannes war stärker!“
Leben als Erfolg des Immunsytems
Wie und wann begann dieser rationale Zauber? Sloterdijk, Freund der Ursprünge, sieht die Erfindung des Mikroskops im 17. Jahrhundert als „Erschütterung des Weltbilds“: Nun konnte man sehen, dass „omne vivum ex ovo“ kommt, dass es keine Urzeugung gibt. Bald auch, dass kleine Lebewesen uns ständig umgeben und bedrohen. Es ist das – 1882 erstmals gesichtete – Immunsystem, das diese widrigen Kleinen im Zaum hält. So könne man das Leben eines Individuums als „Erfolgsphase seines Immunsystems“ sehen. Dabei werde, so Sloterdijk, das Immunsystem schon dadurch geschwächt, dass man weiß, dass es existiert.
Wie viel Wissen über die Chancen im Krieg gegen die Mikroorganismen ist einem Individuum erträglich? Und wie viel Ungerechtigkeit? Die Menschen fallen von (ihrer) Natur aus in unterschiedliche Risikoklassen. Das sei die ärgste Ungleichheit, befanden in der frühen Sowjetunion die „Immortalisten“ – und sie lasse sich nur dadurch aufheben, dass alle unsterblich werden, erst das erlaube eine echte klassenlose Gesellschaft. Das ist auch im Kommunismus nicht gelungen.
Die Einsicht in die Verschiedenheit und das Verständnis ihrer (genetischen) Wurzeln sind heute die Basis der personalisierten Medizin, der sich das Symposium noch bis heute, Samstag, widmet. Ein Bericht darüber folgt in der „Presse am Sonntag“ auf den „Wissen“-Seiten.