"Er hinterließ eine Spur wie ein Meteor"

London lockt mit Dickens. Und Claire Tomalin hat eine Biografie geschrieben, die eine gute Einführung bietet.

Erfolgsautor Charles Dickens wird bereits seit Ende des Vorjahres zum nahenden 200. Geburtstag mit neuen Buchausgaben und Übersetzungen gefeiert. Im November wurde in London sein Museum in Nr. 48 Doughty Street wiedereröffnet, wo er 1837 bis 1839 wohnte. Im Museum of London läuft seit Ende Dezember eine größere Schau. Filmretrospektiven, Lesungen, Kongresse und Dickens-Walks sind in der britischen Metropole geplant. Selbst Zürich hat bereits eine Ausstellung im Literaturmuseum Strauhof.

Was aber wäre ein Dickens-Jahr ohne eine fette Lebensgeschichte? Wer das Romanhafte dieses Riesen der viktorianischen Literatur auch in einer Biografie schätzt, ist noch immer mit Peter Ackroyds „Dickens“ (1990) gut beraten. Auf 1256 Seiten breitet dieser äußerst produktive Schriftsteller, der auch eine ausführliche Geschichte Londons geschrieben hat, eine ganze Welt aus. Akroyds Buch habe zu einem Dickens-Revival geführt, hieß es damals.

Anregend ist auch ein eben erschienenes Buch über Dickens. Rechtzeitig zum Jubiläum hat die britische Autorin Claire Tomalin, die bereits beachtliche, preisgekrönte Biografien, etwa von Jane Austen, Thomas Hardy und Samuel Pepys, vorgelegt hat, ein starkes Buch über den „Unvergleichlichen“ geschrieben. Der Stoff war ihr vertraut. Tomalin hat bereits 1990 die Studie „The Invisible Woman: The Story of Nelly Ternan and Charles Dickens“ veröffentlicht. Es geht um jene junge Schauspielerin, die Auslöser des Rosenkrieges von Dickens war und ihn bis zu seinem Lebensende begleitete. Ternan und er hätten ein Kind gehabt, das bald gestorben sei, wird vermutet.


Ein böser Mann. Auch in „Charles Dickens. A Life“ (Viking, 2011, 527 Seiten) wird die ambivalente Beziehung des Romanciers zum weiblichen Geschlecht betont – sein soziales Engagement, wenn es um die Rettung „gefallener“ Frauen ging, seine Vorliebe für die Darstellung idealisierter Kindfrauen, aber auch sein kühler, ja herzloser Umgang mit der Mutter Elizabeth, über die er Unfassbares schrieb, und der Ehefrau Catherine, von der er sich nach 22 Jahren (und zehn Kindern) trennte. Sie war ihm zu passiv.

Gezeichnet wird ein Mann mit zwei Gesichtern, ein rastloser Arbeiter, der so großzügig wie kleinlich sein konnte, ein liebevoller Familienvater, der sich immer wieder in exzessiven nächtlichen Touren verlor. Sie habe ihren Vater geliebt, sagte seine Tochter Katey, die von 1839 bis 1929 lebte, aber er sei auch ein böser Mann gewesen.

Tomalin geht bis auf einen Prolog, der den Menschenfreund Dickens zeigt, chronologisch vor, die Romane stehen im Mittelpunkt dieser mit hilfreichen Karten und Fußnoten sowie aufschlussreichen Bildern versehenen Biografie. Sie verliert nie den Überblick, und das ist eine hohe Kunst bei diesem Leben, das von Umzügen und Reisen geprägt war, bei einem Autor, der ständig mehrere Buch- und Zeitungsprojekte parallel am Laufen hielt, mit den Verlegern stritt und zugleich ein manischer Gesellschafter war, das Theater liebte wie auch sein Publikum, aber zuweilen auch vor ihm flüchtete. Die Stärke von Tomalin ist das Konzise, der prägnante Stil, mit dem sie das Phänomen Dickens untersucht. Manchmal aber muss auch Poesie sein: „Er hinterließ eine Spur wie ein Meteor, und jeder findet seine eigene Version von Charles Dickens“, findet die Autorin am Ende. norb

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2012)

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