Umblätterer

Diese Woche hat der Umblätterer die besten Texte aus den Feuilletons von 2011 gekürt. Die Welt ist gerecht: Gewonnen hat ein listiger Essay, der die Tickermentalität verhöhnt.

Einmal im Jahr hat das Feuilleton, diese selbst in fairen Medien politisch unterschätzte Abteilung des Zeitungswesens, seine Oscar Night. Dann wird gebangt, ob es überhaupt Nominierungen gab und wer denn nun schon wieder gewonnen habe. Verliehen wird „Der Goldene Maulwurf“ von der Institution Der Umblätterer, die den Zusatz trägt „In der Halbwelt des Feuilletons“. Die Sache ist hoch seriös allein deshalb, weil das Consortium Feuilletonorum Insaniaeque in so schönen Orten wie Leipzig, Hamburg, London, Berlin und Konstanz beheimatet ist. Außerdem hat Die Presse einmal gewonnen, mit einem Beitrag von Mariusz Szcygiel über das „Handwerk des Lebens“ (25.2.2006). Diese Buchführung des Alltags einer Krakauer Hausfrau kann man immer wieder lesen, sie nutzt sich nicht ab.

Eben war es wieder so weit. Der Umblätterer hat nicht enttäuscht. Am 10. Jänner sickerte durchs Netz, dass Marcus Jauer von der FAZ gewonnen habe, mit seinem Beitrag „Dioxin!“ (9.4.2011). Online hat er seinem Kunstwerk sogar einen noch schöneren Titel gegeben: „Tor in Fukushima!“ Besser kann man das abgesoffene Jahr 2011 nicht zusammenfassen. Jauer macht sich Gedanken über den Medienkonsum. Warum sind wir alle so geil auf Tickermeldungen, die uns in Alarmstimmung versetzen? Jauers Ticker enthält die Reizworte Dioxin, Atom, Libyen, Guttenberg, Westerwelle – und als Kontrast dazu die Bundesliga. Ist Tempo wirklich wichtig? Der beruhigende Schluss: Nachrichtenalarm bleibt ohne Konsequenz, denn was würde heute schon gelöst durch rasches Handeln?


Ganz ohne Speed. Der Mediator ist erleichtert. Brave Feuilletonisten können sich also selbst zu Stoßzeiten entspannt zurücklehnen und weiter zeitlose Texte studieren, die maulwurfverdächtig sind. Zum Beispiel einen von Frank Schirrmacher. Auf dem zweiten Platz landete 2011 ebenfalls ein Kurzessay der FAZ, und zwar von ihrem obersten Kulturamtsleiter. Schirrmacher überraschte am 14.8. 2011 mit folgendem Statement: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat.“ Soll jetzt Alarm gegeben werden? Warten wir ab. Mal sehen, in welche Richtung der Herausgeber 2012 denkt.

Aufs Podest gelangte gerade noch die Neue Zürcher Zeitung mit einer Betrachtung von Roland Reuß über Schriftbilder (3.2. 2011). Endlich etwas Weltbewegendes aus der Schweiz! Auf den Plätzen landeten herrliche Trivia wie das Beobachten von Publikum, eine Reportage über vier Leute, die tatsächlich Arno Schmidts Roman „Zettels Traum“ um 298 Euro gekauft haben, und – jawohl – auf dem letzten Platz eine akademische Gemme über Exdoktor Guttenberg. Womit das Rennen für 2012 eröffnet ist. Wird sich Bild überwinden und ein ehrliches Feuilleton über die Mailbox verfassen?

norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2012)

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