Wenn das Handy in Konzert- oder Opernhaus klingelt, dann muss das nicht nur Grund zum Ärgern, es kann eine Chance zur Besinnung sein.
Es war eine von jenen täuschend echten Nachahmungen des Telefonklingelns – als es sich noch „Telephonklingeln“ schreiben durfte. Eine Menge von Mobilfunknutzern weiß gar nicht mehr, warum dieses Geräusch älteren Semestern so verhältnismäßig sympathisch im Vergleich zu sonstigen angebotenen Signaltönen ist.
Die sind ja das Einzige, was man heutzutage „wählt“. Nummern tippt man ja ein, das hat mich schon auf den fortschrittlicheren der klassischen Telefone irritiert, weil ich dachte: Was hätte der reizende Verkäufer bei Tiffany's der reizenden Audrey Hepburn an ebenso nützlichem wie erschwinglichem Silberzeug anbieten sollen, wenn nicht den legendären, wunderbaren Wahlhelfer?
Wie auch immer: Der retrospektive Klingeleffekt camoufliert charmant die Tatsache, dass man seinesgleichen früher nur vernehmen konnte, wenn man daheim war, heute aber von ihm allzeit belästigt werden kann. Auch beim Konsum von Musik im Verein mit 2000 Gleichgesinnten.
Das Telefon klingelte also – irgendwo im Parkett. Man gab weiter vorn im Haus gerade „Otello“. Ich war ein wenig dankbar für die Störung, befreite sie mich doch jählings von einem schlimmen Gedanken, der mich befallen hatte, als der Kinderchor gerade zu Mandolinengezupfe seine Stanzen zu Ehren der schönen Desdemona zum Besten gab.
Karajan tat einst recht daran, dachte ich, diesen Ausrutscher des späten Verdi kurzerhand zu streichen, um rasch wieder zur hochdramatischen Sache zu kommen. „Ausrutscher?“, mahnte mich der Klingelton, „ich will dir zeigen, was ein Ausrutscher ist. Ein Strich bei Verdi!“
Ich entschuldigte mich bei Verdi, der auf seiner Wolke gerade dem Kollegen Mahler zuzwinkerte. Dem haben sie vor drei Tagen den Schluss der Neunten Symphonie zerstört. Die New Yorker Philharmoniker unterbrachen das zögerliche Innehalten und Ersterben im äußersten Pianissimo-Bereich– denn der Verursacher der Störung, ein Abonnent in der ersten Sitzreihe, bekam zunächst nicht mit, dass er der Stein des Anstoßes war. Sein Handy war abgeschaltet. Dass der aktivierte Alarm sich dadurch nicht beeindrucken lässt, damit hat der Mann nicht gerechnet...
Kling, Glöckchen? Dann lieber bei Verdis Kinderchor. Hätte man ihn vergangenen Freitag weggelassen, wäre übrigens der heikle Dialog Otello/Desdemona gestört worden. So viel zu Strichen in Meisterwerken.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2012)