Stephen King: Gefährlicher Schmetterlingseffekt

Stephen King Gefaehrlicher Schmetterlingseffekt
Stephen King Gefaehrlicher Schmetterlingseffekt(c) Heyne
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Was wäre, wenn JFK am 22. November 1963 nicht gestorben wäre? Mit "Der Anschlag" erbringt Stephen King einen weiteren Beweis, dass er einer der großen Erzähler ist.

Stephen King? Muss nicht sein. Spannend, ja, schon, aber insgesamt doch zu flach, ein bisschen trashy, und vor allem zu viel Horror, irre Autos und mordende Teddybären.

Oder auch nicht. Selbst King-Skeptiker sollten sich nämlich überlegen, seinem jüngsten Roman einige Tage zu widmen (ein bisschen Zeit braucht man schon für 1000 Seiten). Denn mit „Der Anschlag“ beweist Stephen King drei Dinge: Er ist einer der fesselndsten lebenden Erzähler, er beherrscht auch andere Sujets als Horror und er ist mittlerweile ein wunderbarer Chronist Amerikas – des gegenwärtigen und auch des vergangenen.

„Der Anschlag“ ist eine „Was-wäre-wenn?“-Geschichte. Und nachdem Stephen King nie ganz ohne Übersinnliches zu haben ist, lautet die Prämisse: Was wäre, wenn wir in die Vergangenheit zurückkehren und sie ändern könnten? Vor diese Frage wird der Englischlehrer Jake Epping gestellt, als ihn sein Bekannter Al Templeton dringend sprechen möchte. Der seltsam veränderte, gealterte, gestern noch gesunde und heute todkranke Templeton betreibt einen Diner in einem Trailer, einem Art-Deco-Prachtstück aus den 1930er-Jahren. Durch Zufall hat er im Vorratsraum eine unsichtbare Treppe entdeckt, auf der man ins Jahr 1958 zurückschlurfen kann und dort immer am selben Tag ankommt, dem 9. September 1958. Jedes Mal ist das erste Mal. Und egal, wie lange man bleibt, ob fünf Minuten oder fünf Monate, im Jahr 2011 vergehen immer nur zwei Minuten. Der Zeitreisende aber altert um die Zeitspanne, die er in der Vergangenheit verbracht hat.

Das wurde Al Templeton zum Verhängnis. Er blieb lange – lange genug, um an Lungenkrebs zu erkranken, aber nicht lange genug, um sein Ziel zu erreichen: den Anschlag auf John F. Kennedy am 22. November 1963 in Dallas zu verhindern. Diese Fackel übergibt Templeton nun an Jake Epping, der vom unbescholtenen Englischlehrer zum einfallsreichen Betrüger und Mörder namens George Amberson wird.

Epping muss zu diesen drastischen Mitteln greifen, weil die Vergangenheit sich gar nicht verändern lassen will. Und je größer das Vorhaben, umso erbitterter auch der Widerstand. Bei kleineren „Adaptionen“ springt plötzlich das Auto nicht an oder ein umgestürzter Baum blockiert die Straße. Bei schwereren Umwälzungen schreckt die Vergangenheit, wer immer sich hinter diesem Kollektiv verbirgt, auch vor Mord nicht zurück. Und Lee Harvey Oswald daran zu hindern, abzudrücken, ist so etwas wie der Hauptpreis in der großen Geschichtslotterie.

„Der Anschlag“ ist höchste Erzählkunst. Stephen King hat nicht umsonst 560 Millionen Bücher verkauft, weshalb er genau weiß, a) wie man einen Leser auch über 1000 Seiten lang bei der Stange hält und b) exakt welche Dosis Philosophie und Historie einem „Pageturner“ beigemischt werden muss, damit sich der Leser etwas klüger vorkommt, als er wirklich ist, ohne überfordert oder beim schnellen Umblättern gestört zu werden.

Gefährlicher Schmetterlingseffekt. In Kings jüngstem Buch ist das unter anderem der Schmetterlingseffekt: Welche Auswirkungen hat eine kleine Änderung auf das gesamte historische Getriebe? Läuft die Maschine dadurch runder oder explodiert sie? Auch Schrödingers Katze schaut vorbei: Wie verändert eine zusätzliche Person durch ihre bloße Anwesenheit den Lauf der Dinge? Und was ist besser: Harry, der Hausmeister, der als einziges von vier Kindern die mörderische Attacke seines Vaters überlebt, allerdings behindert? Der im Großen und Ganzen glücklich scheint und voll Stolz kurz vor seiner Pensionierung den College-Abschluss nachholt? Oder Harry, der unverletzt bleibt, weil sein Vater an dem Angriff auf seine Familie gehindert wird, der aber dafür als junger Mann in Vietnam ums Leben kommt? Gott spielen kann anstrengend sein.

Das Buch ist aber auch eine Hommage an das Amerika der 1950er- und 1960er-Jahre. King spielt gekonnt, wenn auch nicht naiv, mit der derzeitigen Sehnsucht nach der guten alten Zeit. In der die Autos schöner waren und das Essen besser, und alles insgesamt einfacher und übersichtlicher – wenn auch viel verrauchter, wie der an die beinahe tabakfreie USA gewöhnte Jake Epping alias George Amberson nach Frischluft japsend feststellt. Seine Liebesaffäre mit der Geschichte Amerikas stört das allerdings kaum.

Stephen King: Der Anschlag. Übersetzt von Wulf Bergner
Heyne. 1056 Seiten, 27,80 €

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2012)

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