Die Bilanz des ägyptischen Frühlings

(c) AP (Amr Nabil)
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Vor genau einem Jahr hat der Volksaufstand gegen Mubarak auf dem Tahrir-Platz begonnen. Am Mittwoch will die Armee den Ausnahmezustand aufheben. Doch die Skepsis in der Bevölkerung bleibt.

Kairo. In seiner Leidenschaft zu fegen, erinnert er ein wenig an Beppo, den Straßenkehrer aus Michael Endes Kindergeschichte „Momo“. Seine Straße gehört zu den saubereren im Gassengewirr der Kairoer Innenstadt – auch wenn es nicht leicht ist, den Müll zwischen den in der zweiten Reihe parkenden Autos hervorzukehren. Fast jeden Tag verlässt Adham, Vater von sieben Kindern, um vier Uhr morgens sein Haus, um in seiner Straße bis zum frühen Nachmittag fertig zu sein. Selbst während des Aufstandes gegen Mubarak, der vor genau einem Jahr begonnen hatte, fegte Adham jeden Tag pflichtbewusst seine Straße, die nur wenige hundert Meter vom Tahrir-Platz entfernt liegt.

Auf die Frage, was er von der ägyptischen Revolution erwartet, zögert er nicht lange und zieht einen Schlüsselanhänger aus seinem verdreckten Overall hervor. Daran hängt ein kleiner Stempel mit seinem Namen, den Adham, der niemals Lesen und Schreiben gelernt hat, benutzt, wenn er offizielle Dokumente abzeichnen muss. „Ich möchte, dass meine Kinder alle zur Schule gehen und so etwas nicht mehr brauchen.“ So simpel und so gewichtig können die Forderungen an den ägyptischen Frühling sein.

Adham ist ein gutes Beispiel dafür, welche Herausforderungen einem demokratischen Ägypten bevorstehen. Er verdient gerade einmal 55 Euro im Monat, neben den Trinkgeldern, die ihm die Anrainer manchmal zustecken. „Ich will nicht reich werden. Das Wichtigste ist, dass alle Leute zufrieden sind, und nicht nur einige wenige auf Kosten der anderen leben“, sagt er bescheiden.

„Gott wird für uns sorgen“

Manchmal hat er nur noch zehn Pfund, umgerechnet etwas mehr als einen Euro in der Tasche. „Ich versuche damit auszukommen, bis wieder Geld hereinkommt.“ Die zehn Pfund gebe er dann seiner Frau. „Andere haben 10.000 Pfund im Monat und kommen damit nicht aus“, schüttelt er ungläubig den Kopf. „Ich habe kein Geld, meine Kinder auf Privatschulen zu schicken, und die staatlichen Schulen sind eine Katastrophe. Ich möchte, dass meine Kinder dort etwas lernen, zum Beispiel Englisch.“ Gleiches gelte für die staatlichen vernachlässigten Krankenhäuser, in die man nur im äußersten Notfall geht. „Am Ende wird nicht die Revolution, sondern Gott für uns sorgen, wenn wir versuchen, unsere Lage zu verbessern“, erklärt er seine Weltanschauung.

Für Politik hat Adham eigentlich keinen Kopf. Wählen ist er aber gegangen, das erste Mal in seinem Leben. Nachdem er im Fernsehen eine Frau gesehen hatte, die sich im Rollstuhl vor dem Wahllokal anstellte, beschloss er, dass auch er gehen muss. Gewählt hat er die Muslimbrüder, „weil alle anderen es auch getan haben“.

Ahmad Abdel Alim ist das Gegenteil von Adham. Er leitet ein kleines Unternehmen – oder besser gesagt einen Laden in bester Lage, mitten im Labyrinth des Bazars Khan El-Khalili in Kairos Altstadt. Ein paar Stufen führen hinab in sein schwülstiges Reich des Nippes: Kelimteppiche und Beduinenpolsterbezüge, Arabesken-Tischchen und Spiegel, Schmuck und Perlmuttkästchen, die die Herzen der Touristen höher schlagen lassen.

Auch Ahmad hat wie Adham nicht an den Protesten gegen Mubarak vor einem Jahr teilgenommen. „Ich saß mit meiner Familie zu Hause und wir haben überhaupt nicht verstanden, was los ist.“ Für den Händler stellt die Revolution zunächst einmal ein praktisches Problem dar: Sein Geschäft ist eingebrochen. „Wir haben hier im Bazar 85 Prozent weniger Touristen“, schätzt er. Drei Angestellte musste er entlassen.

Jetzt macht sich Ahmad Sorgen, ob die islamistische Mehrheit im Parlament dem Tourismus schadet, hofft aber zugleich auf den Pragmatismus der Muslimbrüder. „Sie sind streng, aber keine Betonköpfe und werden hoffentlich mit ihren Aufgaben wachsen und sehen, was für das Land gut ist.“ Doch insgesamt ist auch er froh, dass die Ära Mubarak vorbei ist.

Frauen fürchten islamistische Angriffe

Amani El Tunsi empfängt in ihrem Tonstudio im vornehmen Kairoer Bezirk Maadi. Die 28-Jährige ist auch im Westen bekannt: Als Radiomacherin des ersten feministischen Online-Radiosenders im arabischen Raum „Banat we Bas“, des „Girls Only Radio“, und als oft porträtierte Tahrir-Aktivistin. „Die Revolution hat Ägypten verändert, weil die Barriere der Angst gebrochen wurde“, sagt sie. Aber nicht alles laufe nach Plan. „Ich habe Angst, dass die kommenden Jahre wirtschaftliche Probleme und Angriffe auf Frauen und Christen bringen könnten.“

Während des Aufstandes gegen Mubarak spielten die Frauen eine große Rolle, jetzt würden sie wieder an den Rand gedrängt. Amani hofft, dass die Islamisten Kunst und Medien gewähren lassen. „Sie sollten sich vor allem um das Bildungssystem kümmern – mehr als darum, wer was anzieht.“ Aber das größte Problem ist für die Radiomacherin die soziale Frage: „Wenn die Armen revoltieren, dann werden wir eine zweite, viel heftigere Revolution erleben.“

„Geschlossenes System aufgebrochen“

Emad Gad sitzt im 11. Stock des Al-Ahram-Gebäudes, wo er sich im Zentrum für Strategische Studien quasi berufsmäßig Gedanken über die Zukunft seines Landes machen muss. Seine Revolutionsbilanz fällt positiv aus. „Der erste Erfolg ist, dass die Angst bezwungen wurde“, meint auch er. Der zweite sei, „dass ein geschlossenes System einer Militärelite und ihrer Helfer in Polizei und Justiz aufgebrochen wurde“; Drittens hätten die Menschen erkannt, dass sie der Souverän sind. „Wenn die Militärführung oder jetzt die Islamisten im Parlament einen Fehler machen, werden die Menschen auf den Tahrir gehen“, beschreibt Emad die neue politische Rechnung.

Er selbst hat es als liberaler Kandidat nicht ins Parlament geschafft. „Aber ich akzeptiere den Wahlsieg der Islamisten und wenn mir nicht passt, was sie machen, gehe auch ich auf den Tahrir“, kündigt er an. „Die Ägypter werden nie wieder die Politik anderen überlassen. Das ist die größte Errungenschaft der Revolution.“

Unzufriedenheit mit dem Militär

Emad rechnet für die nächsten fünf Jahre mit einer schwierigen Wirtschafts- und Sicherheitslage sowie mit der politischen Einmischung von Menschen, die gar nicht an der Revolution teilgenommen haben. „Spanien nach Franco hat auch zehn Jahre gebraucht“, vergleicht er. Das größte Problem für ihn ist die Militärführung, die alles daran setze, die Revolution auszubremsen. Aber am Ende werde auch Ägypten eine Verfassung und einen gewählten Präsidenten haben. „Das größte Problem ist“, sagt er, „dass wir mit der Militärführung und ihrer unsinnigen Politik viel Zeit verloren haben“. Für den heutigen Mittwoch kündigte die Armee das Ende des Ausnahmezustands an.

Auch der Straßenkehrer Adham, der wie sein fiktiver Berufskollege Beppo in langen Abschnitten denkt, beobachtet die postrevolutionären Zeitläufe. Während und nach dem Sturz Mubaraks ging es rund um seinen Arbeitsplatz chaotisch zu, aber langsam werde es wieder besser, erzählt er. Und eines sei ihm schon jetzt aufgefallen: „Die Menschen werfen weniger Müll in meine Straße.“

Chronologie

25. Jänner 2011 Beginn der landesweiten Demonstrationen gegen Hosni Mubarak.

11. Februar Mubarak tritt zurück und wird unter Hausarrest gestellt, ein Militärrat übernimmt die Macht.

3. August Der Prozess gegen den Langzeitdiktator beginnt.

22. November Nach gewaltsamen Protesten kündigt der Militärrat die Präsidentenwahl für Juni 2012 an. Kurz darauf will das Militär die Macht abgeben.

28. November Beginn der mehrstufigen Parlamentswahlen. Klare Sieger des Votums sind die Islamisten.

23. Jänner 2012 Erste Sitzung des neuen Parlaments.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2012)

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