Krawatte, Zigarette und Bentō

Zwei Männer sitzen auf einer Parkbank. Nach einer langen Weile erzählen sie sich ihr Leben. „Ich nannte ihn Krawatte“, Milena Michiko Flašars dritter Prosaband, verbreitet eine beckettsche Grundstimmung.

Es ist dramatisch: Kaum entdeckt ein österreichischer Verlag eine junge, begabte Autorin, schon ist ein deutscher Verlag da, der sie umwirbt. Den heimischen Programmleiterinnen geht es wie dem sprichwörtlichen Hasen, dem der deutsche Igel zuruft: „Ich bin schon da!“ Nun versichert der Berliner Wagenbach Verlag glaubhaft, die 1980 in St.Pölten geborene Milena Michiko Flašar nicht abgeworben zu haben. Trotzdem ist sie mit ihrem nunmehr dritten Buch von dem in ihrer Geburtsstadt St. Pölten angesiedelten Verlag, der die ersten beiden Bücher verlegt hat, nach Berlin abgewandert. Ein herber Verlust, nicht nur für den Verlag an der Traisen, sondern für die chronisch unterkapitalisierte, kleinteilige heimische Verlagsszene insgesamt. Erwecken solche Abgänge doch den Eindruck, dass nur jene Autoren bei österreichischen Verlagen verbleiben, die es nicht ins Ausland schaffen.

Mit dem Ausland hat Milena Michiko Flašar jedenfalls Erfahrung, stammt ihre Mutter doch aus Japan. Dort verbringt die studierte Komparatistin, Romanistin und Germanistin auch zirka alle zwei Jahre ein paar Wochen. Tief auf die japanische Mentalität eingelassen hat sie sich nun in ihrem Roman „Ich nannte ihn Krawatte“. Ein junger und ein alter Mann sitzen auf einer Parkbank. Zwei aus der Welt Gefallene. Der Junge ist ein „Hikikomori“. So nennt man in Japan Jugendliche, die sich weigern, die Unterkunft ihrer Eltern zu verlassen, und den Kontakt zur Außenwelt auf ein Minimum reduzieren. Ein in Japan inzwischen verbreitetes Phänomen. Der Ältere wiederum hat seine Arbeit verloren, verschweigt das aber seiner Frau und geht jeden Morgen mit Krawatte, Aktentasche und Bentō (die Mahlzeit, die sie ihm mitgibt) außer Haus.

Nun ist die Parkbank kein ganz neues Möbel für so ein Setting. Sie gibt dem Buch von Beginn weg ein Beckett'sches Ambiente. Existenzialistisch geht es also los, wenn der erzählende junge Mann, der zwei Jahre ausschließlich in seinem Zimmer verbracht hat, von seinem ersten „Freigang“ berichtet: „Ich wollte niemandem begegnen. Jemandem zu begegnen bedeutet Teil seines Gewebes zu werden, und dies galt es zu vermeiden.“ Doch dann setzt sich der „Salaryman“ (Firmenangehöriger) auf die gegenüberliegende Bank, raucht eine Zigarette und packt danach sein Bentō aus. Wochenlang sitzen sie sich die beiden so gegenüber, beobachten sich, nicken sich beim Kommen und Gehen zu – und sagen nichts.

Die Spannung, die die Autorin damit aufbaut, besteht natürlich nicht in der erwartbaren Situation, dass einer der beiden irgendwann das Schweigen bricht, sondern darin, wie das passiert. Eine unbedachte Geste des Hikikomori bricht den Bann: „Ich nickte eine Einladung.“ Daraufhin bietet ihm der Salaryman eine Zigarette an, obwohl er doch längst weiß, dass der andere nicht raucht. „Du rauchst nicht? Ist gut“, sind dann seine ersten Worte. Vorerst folgen nicht viele weitere. Und doch, die „leise Ahnung, dass es von nun an kein Zurück mehr gäbe“.

Das könnte in seiner Zartheit fast eine Szene aus Doris Dörries Streifen „Kirschblüten – Hanami“ sein. Wer diesen Film mochte, wird von Milena Michiko Flašars Buch hingerissen sein. Wer ihn ein wenig kitschig fand, wird im Verlauf des Romans manchen jugendlichen Überschwang bedauern. Denn die Stärke des Textes liegt dort, wo kaum etwas geschieht, wo beobachtet und die Szenerie geschildert wird. In der Verhaltenheit liegt die ganze Kunst des Buches. Die Sache bekommt dort einen Drall ins Hollywoodhafte, wo die Autorin in die Biografien der beiden Hauptfiguren alles hineinpackt, was auf die Tränendrüse drücken könnte.

Das ist dann der Fall, als sich der Businessman und der Nichtstuer davon berichten, wie es dazu gekommen ist, dass sie auf der Parkbank gelandet sind. Trotz unterschiedlicher Biografien begegnen sie einander im sozialen Nirwana, weil sie beide Dinge erlebt haben, die sie aus dem Alltag, der ihre Zuflucht war, herausgerissen hat, tragische Erlebnisse, nach denen sie nicht wieder ins gewohnte Leben zurückgefunden haben.

Vielleicht ist Japan die am stärksten ritualisierte Gesellschaft dieser Erde. Was in Cees Nootebooms berühmtem Roman „Rituale“ die Teezeremonie, das sind im Alltag Ōhara Tetsus die Krawatte, das Rauchen und das Bentō. Sie bilden zusammen jenes magische Dreieck von Arbeit, ein klein wenig Genuss und Ehe, das sein Leben begrenzt, ihm zugleich aber Halt gibt. Vielleicht hätte die Beschränkung auf ein einzelnes, nahezu unbedeutendes Ereignis, das dieses Dreieck aus dem Lot bringt, genügt, damit Milena Michiko Flašars Langerzählung jene atmosphärische Dichte erhält, die sie sonst auszeichnet. Durch die Schicksalsschläge, die Tetsu widerfahren, erlangt sie jedoch eine Dramatik, die die eigentliche Tragödie eher lindern als aufzeigen, nämlich die Erkenntnis: „Einen glücklichen Alltag gibt es nicht.“ Denn diese Einsicht, die Tetsu wiedergibt, als er davon berichtet, dass seine Frau und er es nie geschafft haben, die verschobene Hochzeitsreise nachzuholen, kontrastiert Camus' „Mythos des Sisyphos“.

Philosophisch konsequent wird am Ende des kreisförmig angelegten Buches auf den Anfang und damit auf Nietzsches Wiederkehr des ewig Gleichen verwiesen. Und so ist der Nukleus dieser Prosa, was über die Literatur gesagt wird – und auch fürs Leben gilt: „Man könnte Sterbegedichte schreiben, Millionen, über ein und denselben Tod, und doch sagten sie, jedes einzelne, etwas anderes, je nachdem, was sie ausließen.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.01.2012)

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