Das Qeiyafa-Ostrakon, der Prophet Jesaja und Jesus

Alleinstehende Frauen, Kinder und Fremde sind noch immer die am stärksten bedrohten Menschen. Wer tritt heute für sie ein?

Ein rätselhaftes Fragment einer Handschrift aus dem zehnten vorchristlichen Jahrhundert wurde im Juli 2008 in Khirbet Qeiyafa, einer Ausgrabungsstätte etwa 30 Kilometer südwestlich von Jerusalem, von Archäologen der Hebrew University entdeckt. Es handelt sich um ein sogenanntes Ostrakon, eine mit Tinte beschriebene Scherbe eines Tongefäßes, und stellt die älteste Inschrift in hebräischer Sprache dar, die jemals gefunden wurde.

Die Schriftzeichen haben noch nicht viel mit der hebräischen Schrift gemein, es handelt sich um ein archaisches, „protokanaanäisches“ Alphabet. Viele der verblassten Buchstaben konnten entziffert werden. Auch wenn Wissenschaftler noch um die exakte Rekonstruktion und Deutung kämpfen, lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass der Text einen königlichen Beamten dazu auffordert, Witwen, Waisen und Fremden zu ihrem Recht zu verhelfen.

Für die Bibelwissenschaft ist dies von hohem Interesse. Zum einen, weil der Text darauf hindeutet, dass sich zur Zeit König Davids tatsächlich ein politisch wirksames Königtum etablierte. Zum anderen aber, weil der Text bereits jene Sorge um soziale Randgruppen widerspiegelt, die sowohl in den biblischen Rechtstexten als auch bei den Propheten zum Ausdruck kommt.

Besonders intensiv ist dieses Thema beim Propheten Jesaja entfaltet, der etwa 740−687 v. Chr. in Jerusalem auftrat. Schon in der ersten Spalte der berühmten Jesajarolle aus Qumran liest man: „Helft den Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen!“ Jesaja war ein viel gelesener Prophet, wie die mehr als zwanzig Kopien des Buches in Qumran bezeugen. Auch Jesus identifizierte sich stark mit dem sozialen Programm dieses Propheten, sodass es zum ethischen Fundament des Christentums wurde.

„Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung.“ Diesen und andere Verse aus Jesaja zitiert das Neue Testament, um das Lebensprogramm Jesu zusammenzufassen.

Ohne den Propheten Jesaja ist das christliche Verständnis von Jesus undenkbar, sodass das Johannesevangelium zusammenfassend sagt, Jesaja habe seine „Herrlichkeit gesehen“ und von ihm gesprochen.

Eine direkte Linie führt vom drei Jahrtausende alten Qeiyafa-Ostrakon über Jesaja zu Jesus. Und eine direkte Linie führt von der Botschaft dieser Texte und Personen zu den Herausforderungen von heute. Alleinstehende Frauen, Kinder und Fremde sind noch immer die am stärksten bedrohten Menschen. Wer tritt heute für sie ein?

Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentliches Rundschreiben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskräfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt.


E-Mails: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.02.2012)

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