Cäsar eigenen Glücks

Seine so neuartig wirklichkeitsnahen Romane waren die Straßenfeger des frühviktorianischen Zeitalters. Nicht nur England feiert am 7. Februar den 200. Geburtstag von Charles Dickens.

Der Erfolg war sein beharrlicher Begleiter, von Beginn an. Nie hat ein literarisch herausragender Schriftsteller zu Lebzeiten solchen Ruhm errungen wie er. Mit 24 Jahren, nach dem Erscheinen des Erstlingswerks „Sketches by Boz“, war der noch pseudonyme Debütant schlagartig in aller Munde. Doch im selben Jahr, 1836, lieferte der Autor die „Pickwick Papers“ nach, den bisher bedeutungsvollsten humoristischen Roman der britischen Literatur. Von da an war der Name Charles Dickens im ganzen englischen Sprachraum ein Markenzeichen für bestechend unverblümte, fantasievoll-spritzige Erzählkunst.

Der junge Dickens sah sich freilich erst am Vorabend seines Weltruhms. Die Zukunft verhieß noch weit mehr Anerkennung für den ehemaligen Zeitungschronisten und Parlamentsstenografen, der fortan die populärsten englischsprachigen Magazine mit Fortsetzungsserien erst der amüsanten Pickwickier-Eskapaden, dann gänzlich andersgearteter, ernsthafter Romanabenteuer belieferte: „Oliver Twist“, „Nicholas Nickleby“, „Martin Cuzzlewit“ und viele mehr, bis zu den meisterhaften Spätwerken „Bleak House“ und „Große Erwartungen“ sowie dem unvollendeten Kriminalroman „Das Geheimnis um Edwin Drood“. Das Lesepublikum nahm in einem heute unvorstellbaren Ausmaß Anteil am Schicksal von Dickens' scharf gezeichneten, typenhaften Figuren – seine so neuartig wirklichkeitsnahen Romane waren gewissermaßen die „Straßenfeger“ des frühviktorianischen Zeitalters.

In den nur dreieinhalb Jahrzehnten bis zu seinem frühen Tod 1870 schuf der erfolgsverwöhnte Autor rastlos Roman für Roman, meist im Wettlauf mit der Druckerpresse – und wurde so zum Erfinder von über 13.000 Erzählfiguren. Ein überbordendes Werk an Romanen, Erzählungen, Prosaskizzen und politischen Aufsätzen entstand, das, noch zu Lebzeiten in einer Gesamtausgabe erschienen, stattliche 27 Bände füllte und, wie die meisten publizistischen Unternehmungen Dickens', sämtliche Verkaufserfolge schlug.

Hoch bezahlte Lesereisen folgten. Sie führten den Autor quer durch das britische Inselreich und zweimal nach Amerika; sogar eine Anfrage aus Australien lag vor. Indes trugen diese von Dickens mit viel Verve absolvierten Vortragstourneen erheblich dazu bei, dass sich der überarbeitete Mittfünfziger früh gesundheitlich verausgabte. So verdankten es letztlich seine Erben dem Dickens'schen Geschäftssinn, dass ihnen dieser Krösus der Weltliteratur, trotz aufwendigen Lebensstils und vieler Unterstützung für Verwandte und Bedürftige, nach seinem Tod ein Vermögen von rund 93.000 Pfund hinterließ: nach heutigem Wert ein zweistelliger Millionenbetrag.

Dickens hat sich im Wortsinn aus dem Elend herausgeschrieben. Es ist ein nur allzu seltenes Wunder der Literatur, dass einer, der die Armut beschreibt, dadurch zu Reichtum kommt. Seine Schreibfeder hat er in den Dienst einer unablässig neue Erzählstoffe verarbeitenden Romanmanufaktur gestellt. Seine Triebfeder aber war ein Trauma: die bittere Erfahrung des Knaben aus den Londoner Suburbs, der als halbwüchsiger Lohnsklave einem Schuhcreme-Fabrikanten übergeben worden war, um für seine im Schuldgefängnis schmachtende Familie Geld zu beschaffen. Zeitlebens versuchte Dickens geradezu zwanghaft, diese Erniedrigung abzuschütteln. In seinen am stärksten autobiografisch grundierten Romanen „Oliver Twist“, „David Copperfield“ und „Große Erwartungen“ schickte er sich an, die dunklen Erfahrungen seiner Adoleszenz eimerweise aus dem Brunnen der Vergangenheit emporzuholen, um von Verlust und Verzweiflung einer verpfändeten Jugend zu erzählen.

Ganz unverstellt hat er dies in dem ziemlich spät, erst 1850, niedergeschriebenen Roman „David Copperfield“ unternommen, der nicht von ungefähr zum Lieblingswerk des Autors wurde. „Ob ich mich in diesem Buch zum Helden meines eignen Lebens entwickeln werde oder ob jemand anders diese Stelle ausfüllen soll, wird sich zeigen.“ So offenherzig verwundbar lässt er den Icherzähler diese Entwicklungsgeschichte eines gedemütigten Knaben beginnen, der sich als erfolgreicher Schriftsteller entpuppt. David Copperfield, der die umgestellten Initialen des Autors trägt, wurde von seiner in die Pleite gefallenen Familie erbarmungslos zur Kinderarbeit gezwungen – nur dass er Weinflaschen statt wie sein Urheber Schuhcreme zu etikettieren hatte.

So nachhaltig wirkte die traumatische Erfahrung des Zwölfjährigen auf den späteren Dickens, dass er bei deren Schilderung den Icherzähler beinahe aus seiner um Distanz bemühten Rolle fallen ließ: „Ich kenne die Welt jetzt gut genug“, kommentiert dieser, „um mich fast über nichts mehr zu wundern, aber dennoch muss ich selbst heute noch staunen, wie man mich damals in einem solchen Alter derart leichtfertig hinausstoßen konnte. Dass sich niemand eines Kindes von so vortrefflichen Fähigkeiten und mit so großer Beobachtungsgabe, so schnell von Begriffen, lernbegierig, körperlich und geistig so leicht verletzbar wie ich, annahm, überrascht mich noch immer. Aber niemand tat es.“

Wie viele Biografen vor ihm zitiert auch der Anglist Hans-Dieter Gelfert in seiner neuen, klug zwischen Lebens- und Werkgeschichte wechselnden Dickens-Monografie ein vom Autor seinem Freund und Testamentsvollstrecker John Forster übergebenes autobiografisches Fragment, das erst zwei Jahre nach Dickens' Tod veröffentlicht wurde. Darin beschreibt der Autor mit nahezu denselben Worten wie in „David Copperfield“ seine „Degradierung zum armen kleinen Kuli“. Sein unbedingter Aufstiegswille hat hier ebenso seinen Ursprung wie das in seinem Werk mit obsessiver Beharrlichkeit wiederkehrende Generalthema der Fremdbestimmung durch eine bedrängende Vergangenheit, von der sich seine Helden befreien müssen.

„Stapellauf ins Leben“ nannte Dickens in „David Copperfield“ die Jugend. Deren Mühsal und Plagen in einem Milieu sozialer Verelendung und verstellter Zukunft wird er vor allem in seinem Frühwerk nicht müde zu beschreiben. So gerät der Titelheld in „Oliver Twist“ (1838), der als Waisenknabe im Armenhaus aufwächst, auf der Flucht vor seinem brutalen Lehrherrn in die Fänge einer Verbrecherbande, aus denen ihn ein gütiger Bürger nur vorübergehend befreien kann: Die endgültige Schicksalswende bleibt der Lösung seines Herkunftsrätsels vorbehalten.

In „Nicholas Nickleby“(1839) erfährt der Leser alles, was er schon immer über den Missbrauch in Erziehungsanstalten und Internaten wissen wollte. Schon David Copperfield hat in seiner Schulzeit Bekanntschaft mit Rohrstocktyrannen und Pädagogenwillkür erleiden müssen. Hier gerät der Junglehrer Nicholas Nickleby in einem Landerziehungsheim in ein System gewissenloser Ausbeutung und sadistischer Schülermisshandlung, dem er nur mit Gewalt entrinnen kann.

Dickens ist kein Erzähler für kühle Köpfe, sondern einer mit heißem Herzen und dem scharfen Blick für gesellschaftliches Unrecht und menschliches Unglück. Er hat die soziale Ausgrenzung, die er früh erfahren musste, nie vergessen. Dementsprechend hartnäckig deckt er gesellschaftliche Missstände in seinem bürgerseligen England auf, wendet er sich mit zunehmender Aufsässigkeit gegen die Gebrechen seiner Zeit. Anfangs vermochte er sogar die Politik in Bewegung zu setzen: Auf das Echo seiner Romane hin verbesserte die Regierung die Armenhäuser und unterwarf die Privatschulen einer stärkeren staatlichen Kontrolle.

Sein überwältigender Erfolg gründet im Appell an den britischen Common Sense – und im Glauben seiner Landsleute daran. Mitgefühl, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit sind seine Leitsterne, denen er sich zuweilen allzu rühr- und vertrauensselig überantwortet. So überreich, mitunter auch pathetisch er seine Empathie für darbende Menschen, für Ausgegrenzte und Entrechtete der Gesellschaft bekundet, so gänzlich ungeschminkt zeigt er Heuchler, Geizhälse, Ausbeuter, Menschenschinder. Ein Hang zur Drastik in der Figurenzeichnung zieht sich durch das ganze Werk.

Dickens war das, was man viel später einen „engagierten Schriftsteller“ nannte. Wie sein Historiker-Freund Thomas Carlyle vertrat er einen sozialen Idealismus (mit deutlicher Beachtung der Würde des Einzelnen) und bekämpfte den hartherzigen Materialismus seines vom Massenelend der Werktätigen verdüsterten Zeitalters. Die Industrialisierung setzte ungeahnte Kräfte der Moderne frei, und Dickens erkannte frühzeitig ihre Zerstörungsmacht, sofern sie ungezügelt blieben. Sein bis heute umstrittenster Roman bleibt „Schwere Zeiten“ (1854). Darin erweist er sich als vehementer Kritiker jenes Unternehmerprinzips, das alles nur nach wirtschaftlichem Nutzen und Profit bewertet. Das England des neuen Finanz- und Kolonialimperialismus erschien dem im Alter immer empörter werdenden Charles Dickens zuletzt extrem zerrissen.

Nach langen Wanderungen durch die unterschiedlichsten Erzählwelten – auch in zwei historischen Romanen: „Barnaby Rudge“ und „Eine Geschichte zweier Städte“ – kehrte der längst zum Gentleman arrivierte Schriftsteller in seinem reifsten Roman „Große Erwartungen“ (1861) noch einmal ins Marschland seiner Kindheit zurück. Dem Waisenknaben Pip, der mit großen Erwartungen in die Wohlstandsmetropole London aufbricht, wird hier der Stapellauf ins Leben von einem unbekannten Gönner mit viel Geldgeschenken geebnet – bis der Begünstigte erkennen muss, dass die Mittel für seinen sozialen Aufstieg aus den dunklen Quellen einer kolonialen Verbrecherexistenz stammen. Das viktorianische Ideal des britischen Gentlemans: Hier wird es von einem Autor, der ihm privat durchaus frönte, gründlich abgewrackt.

In gewisser Weise sind „David Copperfield“ und „Große Erwartungen“ Komplementärromane, indem sie die These und Antithese des möglichen Aufstiegs in höhere Klassensphären exemplarisch durchspielen: einmal als optimistische Glückserfüllung, einmal als pessimistische Distanzierung von solcherart Glücksversprechen.

Die fremde, abweisende Welt, aus der sich Dickens' Romanhelden stets – entlang des Fadens der Vergangenheit wie aus einem Labyrinth – befreien müssen, bleibt für den Einzelnen rätselhaft verschlossen. Er kann sich befreien, aber nicht integrieren. Es ist nichts weniger als das Labyrinth der Moderne, das Dickens uns in seinen besten Werken zeigt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.02.2012)

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