Österreich als Nachbar hat an Strahlkraft verloren

Slowakei. Das Interesse der jungen Generation am einstigen Vorbild Österreich ist stark gesunken. Heute kommen viele nur noch wegen billigerer Lebensmittel. von unserem Korrespondenten CHRISTOPH THANEI

Bratislava. Vom bewunderten Vorbild zum eher langweiligen Nachbarland: Das Bild Österreichs in der Slowakei hat sich in zwei Jahrzehnten deutlich verändert. „Wer von uns schaut heute noch ORF? Und wer in der Slowakei hat noch eine Ahnung, wer der österreichische Bundeskanzler ist oder gar der Außenminister?“, fragte das Wochenblatt „Tyzden“ rhetorisch seine Leser. Und ließ an der Antwort wenig Zweifel offen: „Österreich interessiert uns nicht mehr, weil es für seine umgebende Welt geistig und auch politisch nicht mehr inspirierend ist und uns nicht mehr viel zu bieten hat.“ Gut zwei Jahrzehnte zuvor sei das noch völlig anders gewesen: „Der ORF war für die Slowaken das Symbol eines freien Fernsehens, der österreichische Bundeskanzler das Musterbeispiel eines europäischen Staatsmannes und die österreichische Wirtschaft und der Umtauschkurs des Schillings waren Beispiele, wo wir ohne den Kommunismus sein könnten.“

„Wozu Deutsch lernen?“

Die jungen Slowaken denken anders: „Auch in meinem Bekanntenkreis höre ich immer öfter die Meinung: Wozu Deutsch lernen, auch in Österreich kann man sich auf Englisch verständigen“, sagt der Jungunternehmer Martin Sloboda. Ein seit diesem Schuljahr gültiges Gesetz, das Englisch verpflichtend als erste Fremdsprache in allen slowakischen Schulen vorschreibt, verstärkt den Trend. Es sei aber nicht nur die Sprache, sagt Sloboda: „Auch im Lebensstil orientiert sich die junge Generation, die jetzt die politische und wirtschaftliche Führung übernimmt, mehr an Großbritannien und den USA als an den deutschsprachigen Ländern.“

Auch dass ihnen Österreich und Deutschland bis vor Kurzem den Zutritt zu ihrem Arbeitsmarkt verwehrt haben, während Großbritannien und Irland ihre Tore sofort geöffnet haben, hat das Erlernen der englischen Sprache nützlicher als das der deutschen erscheinen lassen. Für den Tourismusexperten Sloboda spielt aber auch eine Rolle, dass das einst so große Interesse der Slowaken an Österreich nicht erwidert wurde: Die Slowaken seien sofort nach Österreich gefahren, sobald es ihnen möglich war. In österreichischen Grenzgemeinden gab es lange völliges Desinteresse am Nachbarland. Darauf habe auch die slowakische Fremdenverkehrswerbung reagiert: „Es lohnt sich für den Tourismusverband nicht, viel in einem Land zu werben, in dem es wenig Interesse gibt.“ In eine ähnliche Kerbe schlägt die Journalistin Miriam Zsilleova, Österreich-Expertin der Tageszeitung „Sme“: „Wenn ich an einem Tisch mit Österreichern sitze, stelle ich viele Fragen. Umgekehrt fragt mich niemand nach der Slowakei.“ Doch sie nimmt auch schwindendes Interesse der Slowaken an Österreich-Berichten wahr.

Auffallend ist die Umdrehung des Einkaufstourismus zwischen beiden Ländern: Stürmten nach der Wende österreichische Schnäppchenjäger die Geschäfte von „Gratislava“ sind es jetzt die Slowaken, die aus dem sündteuer gewordenen Bratislava zum Einkaufen nach Österreich fahren: „Bei Kleidung, Lebensmitteln und Bioprodukten verbindet man mit Österreich bessere Qualität zu meist günstigeren Preisen“, sagt Sloboda. „Nachhaltigkeit, Ökologie, Tourismus, das sind aber auch sonst die Vorzüge, die wir hier mit Österreich verbinden“, hebt er hervor. Simon Gruber, der als Österreicher in Bratislava arbeitet und viele Freunde in der Slowakei hat, differenziert: „Die Hauptstadtbewohner haben nicht mehr diesen großen Respekt vor Österreich, aber wenn Freunde aus dem Landesinneren zu uns kommen, spürt man die Bewunderung noch immer. Und alle betonen, wie sauber und ordentlich in Österreich alles sei.“ Diese Vorzüge loben auch jene zahlreicher werdenden Slowaken, die sich in österreichischen Grenzgemeinden ein Haus bauen, auch weil das hier billiger ist als in Bratislava. Zum Arbeiten fahren sie aber nach Bratislava, weil es die ihrer Qualifikation entsprechenden Jobs in den österreichischen Kleingemeinden nicht gibt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2012)

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