Wenn es je ein Jahr gab, in dem sich im Pop alles änderte, dann 1977. Der Umbruch lässt sich knapp fassen: „It‘s not yesterday anymore.“


Knapp, klar: „77“ hieß das erste Album der Talking Heads. Ein Song darauf, „New Feeling“, beginnt mit einer ebenso knappen und klaren Zeile, mit langen Pausen zwischen den Wörtern, hervorgestoßen von David Byrne, der damals noch kein alter Sonderling war, sondern ein junger Sonderling: „It‘s not yesterday anymore.“
Wir schreiben 1977, und es ist nicht mehr gestern: Das ist die Essenz des Popjahres 1977. Wenn es je ein Jahr gab, in dem Pop eine bewusste Wende vollzog, dann war es dieses. Das abgeschmackte Wort von der Aufbruchsstimmung, hier passt es. 1977 entdeckte der Pop die Zukunft wieder. „Into the future!“ sangen die Vibrators (und fügten den Untertitel „Sex Kick“ dazu), „Something better change“ die vergleichsweise ältlich aussehenden und mit Altmännererotik kokettierenden Stranglers. Sie forderten im selben Jahr, auf ihrem zweiten Album: „No more heroes anymore!“ Keine Helden mehr, zumindest nicht die alten. David Bowie schrieb das Wort „Heroes“ auf seinem gleichnamigen Album, das Ende 1977 erschien, unter Anführungszeichen: Er, damals schlaflos in Berlin, war wie sein Freund Iggy Pop – der 1977 ebenfalls zwei wesentliche Alben veröffentlichte – unter den wenigen Figuren, die sowohl zum Alten als auch zum Neuen gerechnet werden konnten.
Was war das Neue? In einem Wort: Punk. Heute, wo er ein „Vintage“-Stil unter anderen ist, kann man sich kaum mehr vorstellen, mit welcher Frechheit Punk damals einschlug und viele, wenn auch nicht alle Werte umkehrte. Vorher waren die Haare lang, nachher kurz, vorher war man „laid-back“, nachher hektisch, vorher naturromantisch, nachher industrieromantisch, vorher war Virtuosität wichtig, nachher überflüssig, ja schädlich. „Here‘s one chord, here‘s another, here‘s a third, now go and form a band“, schrieb eines der vielen handkopierten „Fanzines“, und das wurde tatsächlich als Provokation verstanden von all den Rockgitarristen, die sich auf ihre Fingerfertigkeit etwas einbildeten.
No Elvis, Beatles, Stones. So war Punk eine ästhetische Revolution, was bekanntlich das Gleiche heißt wie: die Proklamation einer Revolution. „White riot, I want a riot“, proklamierten The Clash: „a riot of my own“. „Bei Schlechtwetter findet der Aufstand im Saale statt“, kommentierte ein böszüngiger Journalist.
Noch etwas riefen The Clash besonders deutlich: „No Elvis, Beatles or the Rolling Stones in 1977!“ Nun, die Beatles hatten ihnen schon 1970 prophylaktisch den Gefallen gemacht, sich aufzulösen; die Rolling Stones sollten erst 1978 mit „Some Girls“ eine Reaktion auf Punk versuchen (in der sie sich auf ihre abgehangene Rock‘n‘Roll-Dekadenz verließen). Und Elvis Presley? Er starb am 26. Juni 1977. Was die Redaktion der deutschen Zeitschrift „Sounds“ – in der damals ein Streit zwischen Altrockern und Punk-Sympathisanten lief – dazu brachte, auf ihrem Titelblatt das Ableben des alten Elvis gleich mit dem Aufkommen eines jungen Elvis zu kombinieren. Es war Elvis Costello (der in Wirklichkeit Declan Patrick Aloysius MacManus hieß), ein Aushängeschild des „Independent Labels“ namens Stiff, das mit einem nicht ganz jugendfreien Slogan für seine Produkte warb: „If it ain‘t Stiff, it ain‘t worth a fuck.“
„I hate Pink Floyd.“ „Independent“, das war 1977 noch eine ernst gemeinte Kampfansage an die Musikindustrie, an die großen Plattenfirmen, mit denen z. B. die Sex Pistols tatsächlich schlechte Erfahrungen machten. Die Firma EMI kündigte den Vertrag bald nach „Anarchy In The U. K.“, weil die Pistols sich gar zu rüde öffentlich selbst darstellten, diese bedankten sich mit dem höhnischen Song „E. M. I.“ Nach einem Versuch bei A&M landeten sie dann beim Hippielabel Virgin, das ihnen eigentlich zuwider hätte sein müssen. Immerhin trug Sänger Johnny Rotten bisweilen programmatisch ein T-Shirt mit der Aufschrift „Pink Floyd“, ergänzt durch den Vorsatz „I hate“.
Ja, die alten Bands, oft als „Dinosaurier“ oder gar als „Boring Old Farts“ verhöhnt, hatten kein gutes Image in Punkkreisen. Dabei waren gerade Pink Floyd mit ihrem bitteren 1977er-Album „Animals“, für das sie ein Plastikschwein über die Rauchfänge der Battersea Power Station fliegen ließen, gar nicht weit weg von der kühlen Zivilisationskritik der New Wave. (Ihre Songs waren allerdings sechsmal so lang.) New Wave? Ja, dieses Wort setzte sich schon 1977 durch. Geprägt hatte es Malcolm McLaren, Manager der Sex Pistols, schon im Jahr davor, in Anlehnung an die Nouvelle Vague im französischen Film. New Wave war keine Alternative zu Punk, sondern seine Ausweitung. Wer es zu blöd fand, sich Rasierklingen um den Hals zu hängen oder beim Pogotanz zu prügeln, sprach vielleicht lieber von New Wave als von Punk, steckte sich aber doch zumindest eine Sicherheitsnadel ins Revers seines Sakkos.
So gerüstet konnte man auch mit zwei ganz anderen aktuellen Musikrichtungen flirten. Erstens mit dem Reggae: Es war gang und gäbe, dass vor Punkkonzerten z. B. die aktuelle Bob-Marley-Platte aufgelegt wurde; die Clash brachten schon 1977 in „Police and Thieves“ die beiden Stile zusammen. Zweitens, deutlich verschämter, mit dem Disco: 1977 war auch das Jahr des „Saturday Night Fever“. Und auch wenn Punks und New-Wave-Menschen offiziell die Disco-Aficionados als peinliche Schnösel verachteten oder gar „Death to Disco“-Badges trugen – zumindest die Freude an ostinaten Rhythmen teilten sie mit ihnen.
Dass diese Rhythmen „maschinell“, „unmenschlich“, „herzlos“ klangen, war einer der Lieblingseinwände der Freunde des „guten alten Rock‘n‘Roll“. Genau das war beabsichtigt: Schon damals war die deutsche Band Kraftwerk, die 1977 ihr Album „Trans-Europe Express“ herausbrachte, ein wesentlicher Einfluss mit ihrer Idee von den Musikmaschinen, vor denen die Menschen zu Menschmaschinen werden. „I want to be a machine“ – diesen Satz von Andy Warhol machten Ultravox auf ihrem ersten Album zum Songtitel. Ein zweites programmatisches Stück darauf hieß „My Sex“: „My sex is a fragile acrobat“, hieß es darauf: „Sometimes I‘m an automat.“ Die männlichen Protzgesten des Rock wurden in der New Wave genauso angezweifelt wie die Inszenierung weiblicher Nacktheit: Durch die zerrissenen Strumpfhosen der Punkmädchen blitzte zwar Haut, aber sie war bleich; Accessoires wie Ketten und Hundehalsbänder taten das Ihre, um jeden Sexappeal prophylaktisch zu verfremden.
Chuzpe spielten vor Blondie. Dass dennoch ein blondiertes Ex-Playboy-Bunnie mit Folkvergangenheit namens Deborah Harry unter dem Signet Blondie zum New-Wave-Star werden konnte, zählt zu den Ambivalenzen der Zeit. Blondie waren – nach den Clash, die schon im Oktober 1977 in der TU spielten – eine der ersten New-Wave-Bands, die in Wien auftraten. Im Februar 1978. Mit einer Wiener Vorband namens Chuzpe (mit Songs wie „Beisl-anarchie“), die es noch zu einiger Bekanntheit bringen sollte. In den Nullerjahren hatte sie ein Comeback unter dem Logo „Chuzpe 77“ – ein stolzes Bekenntnis: Wir waren die Ersten . . .
Tatsächlich: Die meisten kamen später und doch nicht zu spät. Die von den Altvätern in der Musikzeitschrift „Sounds“ deutlich geäußerte Hoffnung, dass die „Sex-Pistols-Hottentotten“ und „Stifteköppe“-Konsorten schnell wieder verschwinden und herzhaften Rockern à la Bob Seger Platz machen würden, hat sich nicht erfüllt. Aber so jäh der Paradigmenwechsel des Punk war, so langsam setzte er sich durch. Der popinteressierte dreizehnjährige Wiener brachte 1977 natürlich eine Sex-Pistols-Single aus dem England-Urlaub mit, fand aber nichts dabei, auch Pink Floyd und Bob Dylan zu hören. Er hätte sich nie getraut, sich einen Irokesen zu schneiden, zog aber auch keine Hippiesandalen mehr an. Das Wesentliche, was Punk ihm sagte, war: Du musst nicht mehr sehnsüchtig zurückschauen in Zeiten, die du versäumt hast. Du sollst dir keine Dokumentationen über Woodstock anschauen, sondern dich umsehen, was heute läuft. Im Grunde die Renaissance eines Popleitmotivs, das erst in Retrozeiten sinnlos geworden ist: Du bist nicht zu jung, sie sind zu alt. It‘s not yesterday anymore.