Ammoniakunfall: Manöverkritik am Tag danach

Ammoniakunfall Manoeverkritik danach
Ammoniakunfall Manoeverkritik danach(c) APA/HELMUT FOHRINGER (HELMUT FOHRINGER)
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Leise Kritik an der Informationsstrategie der Behörden nach dem Ammoniak-Austritt in Wien. Der Kühlhausbetreiber vermutet ein technisches Gebrechen als Grund für den Zwischenfall.

Wien. Es ist eines der Betriebsgebiete, an denen täglich tausende Menschen vorbeifahren, ohne sie wirklich wahrzunehmen: die große Fabrik- und Lageranlage des Wiener Kühlhauses am Franzosengraben 20 (siehe Grafik). Hier trat in der Nacht auf Mittwoch massiv giftiges Ammoniak aus.

Am Tag danach ist am Ort des Unfalls nur noch wenig davon zu sehen. Einzig ein paar Rettungswagen erinnern noch daran. Die Straßensperren sind aufgehoben. Dabei war die vorangegangene Nacht für Anrainer und Einsatzkräfte durchaus aufregend und lang.

1.Was ist Dienstagabend im Wiener Kühlhaus genau passiert?

Um etwa 19 Uhr gehen bei Polizei und Rettung die ersten telefonischen Beschwerden von Bürgern über Atemnot und Augenschmerzen ein. Kurze Zeit später ist die Ursache ausgeforscht: Das Kühlsystem der Firma Wiener Kühlhaus ist leckgeschlagen, giftiges Kältemittel tritt aus.

Wie Sachverständige am Mittwoch feststellen, gilt ein defektes Bauteil („Pumpenflansch“) als die wahrscheinlichste Ursache für den Ammoniak-Austritt. Ein Materialfehler also, wie Geschäftsführer Rainer Schreckenthaler sagt.

2.Was ist Ammoniak, wozu wird es verwendet?

Ammoniak ist eine einfache chemische Verbindung aus Stickstoff und Wasserstoff (NH3). Bei Normaltemperatur ist es ein (farbloses) Gas, das stechend riecht. Viele kennen den Geruch vom Fensterputzen: Salmiakgeist ist eine Lösung von NH3 in Wasser. Ammoniak – hergestellt meist aus Stickstoff (aus der Luft) und Wasserstoff durch die Haber-Bosch-Synthese – ist eine der meistproduzierten Chemikalien, da es als Ausgangsstoff für so gut wie alle industriell hergestellten Stickstoffverbindungen dient, etwa für Kunstdünger und diverse Kunststoffe. Wegen der hohen Verdampfungswärme – die es seiner Umgebung entzieht – nutzt man es auch als Kühlmittel, insbesondere in Großanlagen.

3.Wie giftig ist Ammoniak für den menschlichen Körper?

Ammoniak wirkt zunächst als Base ziemlich ätzend auf die Schleimhäute. Akute Vergiftung schädigt außerdem Leber und Nerven. Sie kommt aber eher selten vor, da man den Stoff schnell riecht.

4.Warum sind unter den Verletzten so viele Feuerwehrleute?

Insgesamt wurden 62Personen (leicht) verletzt, 50 mussten ins Krankenhaus. Bei den Betroffenen handelt es sich um 18 Zivilisten, die restlichen Verletzten sind Einsatzkräfte, die zu viel Ammoniak eingeatmet haben. Die Feuerwehr hat es mit 39 Personen, davon 32 im Spital, am härtesten erwischt. Johannes Zinschitz von der Berufsfeuerwehr Wien erklärt das so: „Die Verletzten waren die ersten Einsatzkräfte vor Ort, sie wurden aus Routine ins Krankenhaus gebracht.“ Am Tag nach dem Ammoniak-Unfall gab es dafür einen erneuten Alarm für die Einsatzkräfte. Im nahe gelegenen Textilunternehmen Astro klagten zehn Mitarbeiter am Mittwochvormittag über Atemnot und Hustenreiz. Neun Mitarbeiter wurden daraufhin von der Rettung mit Sauerstoff versorgt, einer musste ins Krankenhaus. „Wir wissen nicht, ob der Vorfall etwas mit dem Vorabend zu tun hat“, sagt Zinschitz. Ein neues Leck schließt er aber aus. „Wir haben alles gemessen und sind weit von einer Gesundheitsgefährdung entfernt.“

5.War die Bevölkerung jemals ernsthaft in Gefahr?

Glück im Unglück: In dem betroffenen Stadtteil stehen praktisch keine Wohnhäuser – die nächsten sind mehrere hundert Meter vom Einsatzort entfernt, etwa die großen Gasometerblocks. Im unmittelbaren Gefahrenbereich befanden sich nur die ersten 40 Besucher eines Konzerts in der Arena. Sie wurden von der Feuerwehr auch evakuiert, das Konzert wurde abgesagt. Die Einsatzkräfte brachten jedoch weitere 5500 Personen aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich. Und zwar mit Bussen und Sonderzügen der U-Bahn. Davon betroffen waren die Besucher des Musicals „Cats“ in Neu Marx, die Besucher einer Veranstaltung im Gasometer sowie die Bewohner des Hotels Etap. „Damit sie nach dem Ende der Veranstaltung nicht auf die Straße gehen“, sagt Zinschitz von der Feuerwehr. Die in der einen Quadratkilometer großen Sperrzone lebende Bevölkerung forderte die Polizei mittels Megafondurchsagen dazu auf, in den Häusern zu bleiben. Ob das klug war? Selbst Zinschitz ist sich im Nachhinein gar nicht so sicher: „So sind die Leute erst recht auf die Straße, um zu sehen, was passiert ist.“ Ein Betroffener beschrieb die Situation auf Facebook folgendermaßen: „Die Polizei hat uns verboten, Fenster und Türen zu öffnen. Ich musste allerdings das Fenster öffnen, um die Durchsage zu verstehen.“ Auch Besucher des „Cats“-Musicals beschwerten sich darüber, dass sie zu wenig bis gar nicht über die Gefahrensituation informiert wurden.

Insgesamt waren bis zwei Uhr morgens 80 Feuerwehrleute, 50 Mitglieder der Rettung sowie mehrere Dutzend Polizisten im Einsatz. Die U-Bahn-Linie U3 verkehrte zwischen Kardinal-Nagl-Platz und Simmering nicht mehr. Auch Taxis mussten die Region meiden.

6.Hatte der Zwischenfall etwas mit einem Stromausfall zu tun?

Ziemlich sicher nicht, auch wenn wenige Stunden zuvor im nördlichen Erdberg rund um den Rochusmarkt die Lichter ausgingen. Ein Trafo der Wien-Energie drohte wegen Überlast durchzubrennen, eine Notabschaltung war die Folge. Das Wiener Kühlhaus blieb vom Stromausfall verschont.

7.Was wird in den Kühlhäusern aufbewahrt?

Fast alles, was Kühlung braucht und nicht selbstentzündlich oder explosionsgefährlich ist. Insgesamt stehen 150.000 Kubikmeter Lagerkapazität zur Verfügung, das meiste davon ist mit Gemüse, Obst, Fleisch und Tiernahrung belegt. Vor einigen Jahren geriet das Wiener Kühlhaus, in dem es selbst im Hochsommer 30 Grad unter null hat, unverschuldet in die Schlagzeilen: Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte im Zuge von Ermittlungen Blutplasma einer dubiosen Firma, das mit HI-Viren verseucht war. Seinen Ursprung hat der Gebäudekomplex als Kühlhaus des aufgelassenen Schlachthofs St. Marx. siehe auch Seite 27

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2012)

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