Italien 1977: Gelato, Grazie, Graševina

1977 war ein Jahr der Währungsvielfalt, eines der offenen Zugfenster, der belegten Pizza und überhaupt … des Fremdenverkehrs!

Urlaub 1977 fand auf einem anderen Planeten statt. Kaum jemand flog. Fliegen bedeutete Jetset, war unglaublich teuer und Reichen oder Geschäftsleuten vorbehalten. Die damalige Economy Class war eine Business, die Business eine First Class, und First Class war ein Ausdruck, den man bestenfalls mit Eisenbahnwaggons in Verbindung brachte. Flugbegleiterinnen hießen Stewardessen, deren Job ans Modeln grenzte, doch Models hießen Mannequins. Und Tourismus hieß Fremdenverkehr.

Der Euro hatte sich noch nicht einmal am Horizont gezeigt. Die D-Mark war stark, und der Schilling hing an ihr wie ein Wurmfortsatz. Nie in Gefahr, abgeschüttelt zu werden, marschierte er im Gleichschritt mit der Währung des Exportweltmeisters. Die europäische Wirtschaft gebärdete sich gleichsam vorkapitalistisch, das Wort „neoliberal“ wäre wie etwas sehr Weiches erschienen, doch es war noch nicht mit Bedeutung gefüllt. Die regionale Vielfalt drückte sich in herrlicher Währungsfülle aus. Da war die Lira, die man auch als armer Schlucker problemlos zehntausendfach besitzen konnte, was das italienische Chaos widerzuspiegeln schien, und die Drachme, ein hübscher, griechischer Drache von ebenfalls vermeintlich minimalem Wert. Die Menschen glaubten fest daran, die Wirtschaftsstärke eines Landes am Nominalwert messen zu können, Deutschland schien tausendmal so stark zu sein wie Italien, wirkte aber etwas fantasielos, säuerliche Klöpse statt Spaghetti.

Italien. Das Synonym für Urlaub 1977 hieß, zumindest in der Mittelklasse, Italien. Hatte man etwas weniger Geld oder kam man aus den südlichen Bundesländern, konnte es Jugoslawien heißen. Hatte man noch weniger, blieb man in Österreich und argumentierte, dass es da eh am schönsten sei. Auch gab es die Variante Österreich in Italien – sie hieß Jesolo. Hässlicherweise unterstellte man den Wienern, dass sie es Dschesolo aussprechen würden. In Dschesolo fanden sie, was zu Hause noch nicht existierte, eilose Nudeln aus Hartweizengrieß oder belegte Pizza, eine Neuentdeckung, die überall auf der Welt florierte, nur daheim nicht.

Ein Problem bestand darin, dass alle Österreicher gleichzeitig nach Italien fuhren. Die Siebzigerjahre wurden zum Jahrzehnt der gigantischen Staus, die sich potenzierten, wenn auch nördliche Nachbarn Schulschluss hatten und in ihren mehrstöckig bepackten Gefährten zur Alpenüberquerung ansetzten. Es kam zu allerlei Auffahrunfällen mit beträchtlichem Personenschaden, denn die Gurtenpflicht war erst 1976 eingeführt worden und galt nur für die Vordersitze. Zudem gab es, wenn man gurtlos angehalten wurde, keine rechtlichen Konsequenzen. Das bedeutete für rund 2000 Menschen jährlich das Todesurteil. Erst 1984 sollte eine verbindliche Gesetzesregelung eingeführt werden, was zur Viertelung der Anzahl an Verkehrstoten beitrug.

Welt ohne Plastikflaschen. Die große Autolawine machte warme Sommer wie den von 1977 erst so richtig heiß. Es gab keine Mineralwasser-Plastikflaschen an jeder Ecke zu kaufen, und die Federungen waren härter eingestellt, wie ja in den Siebzigerjahren die ganze Welt etwas härter eingestellt war. Dadurch produzierten österreichische Kleinkinder auf Italien-Fahrten etwa 10.000 Liter Erbrochenes, das die Eltern in mühseliger Kleinarbeit von den Sitzbezügen entfernen mussten. Das alles geschah irgendwann im Ferragosto-Monat, sodass sie meist ein halb geschlossenes Nachbarland vorfanden, was sie aber nicht im Geringsten störte. Vor allem ging es ums Erlebnis Meer, vor dem man von Giuseppe und Giovanni in Liegestuhlreihen aufgefädelt wurde. Man wollte den traditionell etwas badefaulen Italienern zeigen, wie man den Ozean beschwamm. Die Deutschen trugen den Mike-Krüger-Hit „Ein bisschen Urlaub“ auf den Lippen, die Österreicher versuchten verbissen, anders auszusehen als die Deutschen. Italienisches Sprachsubstrat jenseits von Gelato und Grazie brachten beide Völker nicht über die Lippen.

Und wie sie aussahen! Die Touristen konnten ja auch nicht aus ihrer Haut oder Epoche fahren, sie trugen die aktuelle Mode durch den Urlaub spazieren, übergroße Herrenhemden, Krempelhosen, Sackkleider. Urlaub 1977 war keineswegs schwarz-weiß: in der Sommerkleidung herrschte ein seltsames Gelb, ein schickes Grau und ein feminines Violett vor. Auf den Fotos von damals wirken die Leute gar nicht besonders typisch Siebzigerjahre, sie verstrahlen sogar eine gewisse Würde, denn die modische Pest Cityrucksack war noch nicht erfunden. Die Sonnenbrillen ähnelten übrigens dem aktuellen Schimpansenlook, grotesk große, ovalrunde Gestelle, oftmals verspiegelt. Chinesische Wegwerfkoffer existierten noch nicht. Wer sich noch keinen ultramodernen Samsonite leisten konnte, reiste mit wertvollen, oft noch genagelten Riesenziegeln, die man von Eltern und Großeltern geerbt hatte. Diese Qualitätsprodukte waren fast unzerstörbar, trugen aber den Körper voller Schrammen, die sie sich während des Jahrhunderts zugezogen hatten. Was war drin? Das ganze Repertoire der Siebzigerjahre, großkarierte Kostüme, Satin und Seide oder Berbermäntel. Mit solchen Koffern checkte man im Hotel nicht etwa ein – man stieg ab.

Schienenverkehrslärm. Meine persönliche Feriengeschichte der Siebziger- und frühen Achtzigerjahre spielte sich in Ligurien ab, an den schmalen Stränden des Städtchens Finale Ligure und in den Trattorias von Savona. Meine Eltern machten uns dadurch, dass sie beide keinen Führerschein besaßen – was ich gegenüber meinen Klassenkameraden zu verheimlichen versuchte –, zu einem touristischen Sonderfall. Unsere Option war die Eisenbahn mit ihrem charakteristischen Schienenverkehrslärm, der heute aus der Welt verschwunden ist (obwohl ich ihn jüngst als gebührenpflichtigen Handy-Klingelton wiederentdeckte), ein suggestiv-herzschlagartiges Doppelklacken, zweimal pro Schiene: Tak-tak, Tak-tak, Pause, Tak-tak, Tak-tak.

Die Eisenbahnen hatten Sechserabteile und bemühten sich noch nicht, Flugzeugen zu ähneln. Auf den Gängen waren Klappsessel eingebaut, auf denen jene Unglücklichen Platz nahmen, die keinen der 6–10 Plätze des Sechserabteils ergattert hatten. Zwischen Menschenkörpern und Kofferaufbauten balancierten Schaffner, um die Fahrkarten der Reisenden zu entwerten. Die Fenster waren nicht plombiert und zugeschweißt wie heute, im Gegenteil, man konnte sie öffnen, frische Luft wehte durch die Gänge, und den Kindern wurde gesagt, dass sie sich nicht hinauslehnen durften – entlang der Schienenstrecke würden Ritter mit Schwertern stehen, die nur darauf lauerten, ihnen den Kopf abzuhacken. Eine weitere Gefahr war der Gang zu den Toiletten. Es kursierten Geschichten von Unfallopfern, die die Klotür mit der Zugtür verwechselt hatten. Selbstverständlich waren die Zugtüren nicht verriegelt, sondern über Kurbeln zu öffnen, die man wie Hebel bediente, eine brauchbare Kindersicherung.

Die Bahn war zwar längst kein Dampfross mehr, doch weiterhin Institution. Sie schien ihre klingenden Namen wie Bundesbahn, Société General de Chemins de fer Française oder Ferrovia dello Stato mit einem souveränen Stolz zu tragen, der den Unternehmen in den folgenden drei Jahrzehnten vollständig abhanden kommen sollte. Ihre Mitarbeiter waren hohe Beamte, denen Respekt entgegengebracht wurde – ausnahmslos männlich, nur in den Ostländern durften Frauen ans Werk – und die über Grundsätzliches wie die Weiterfahrt entschieden. Schwarzfahrer in der Eisenbahn waren aber ebenso selten wie Menschen, die bei Rot über Verkehrsampeln fuhren. Der uniformierte Schaffner trat als der verlängerte Arm der Staatsmacht von Staaten auf, an deren Grundfesten niemand zu rütteln wagte. Sein Wort war Gesetz. Es gab Schaffner mit fotografischem Gedächtnis, die ihre Reisenden persönlich zu kennen schienen. Meistens galt ohnehin: Hatte man einmal die Fahrkarte gezeigt, wurde man kein zweites Mal nach ihr gefragt.

Das Schönste an dieser Reiseform war, dass die Züge keinerlei Ambition zeigten, sich der Ungemütlichkeit eines Flugzeugs anzupassen. Das erste Mal in meinem Leben flog ich übrigens 1986. Ich war völlig überrascht zu sehen, wie mickrig ein Flugzeug von innen war. Endlos viele Viererreihen, dazwischen ein schmaler Gang! Ich hatte es mir eher wie einen Kinosaal vorgestellt.

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