Christlich oder gläubig

Dawkins meint, eine Nation könne sich nicht mehr zum Christentum bekennen, wenn die Leute kaum noch glauben. Doch, doch, sie kann.

Vorige Woche ging es hier um den Religionskritiker Richard Dawkins. Er hat eine Umfrage unter Briten durchführen lassen, die sich als Christen bezeichnen. Demnach hält nur eine Minderheit zentrale Glaubensinhalte des Christentums hoch, und auch nur eine Minderheit folgt den offiziellen Positionen zu Abtreibung, Homosexualität usw. Dawkins: „Es zeigt sich, dass die meisten britischen Christen sehr wenig gemeinsam haben mit den christlichen Lobbyisten, die behaupten, in ihrem Namen zu sprechen.“ Politiker, die sich Wahlerfolge davon versprächen, dass sie die Gottkarte spielen („doing God“), wären nun eines Besseren belehrt.

Na ja – neu ist das jedenfalls nicht. Die Säkularismusforschung beschäftigt sich nun doch schon seit Äonen damit, dass in vielen Ländern die Zahl der Menschen, die sich irgendwie als Christen verstehen, viel größer ist als die Zahl jener, die einen christlichen Glauben bekennen, wie ihn die großen Konfessionen definieren. Und dass sich Christen auch in politischen Fragen wenig an die Vorgaben ihrer Bischöfe halten, ist ein Grundfaktum des Abendlandes (und war es womöglich schon lange, bevor es an den Wahlurnen evident wurde).

Bis vor wenigen Wochen gab es in England etwa noch ein obligates Gebet zu Beginn von Gemeinderatssitzungen. Ich verstehe die Kritik daran, dass aus der Fiktion, die Briten seien eine gläubige Nation, Menschen zu spirituellen Handlungen genötigt werden. Aber für viele Menschen – eine Mehrheit, wie Dawkins selbst festgestellt hat – ist christliche Nation eben etwas anderes als gläubige Nation. Und so liegt Dawkins doch wieder ziemlich daneben: Denn wenn christliche Lobbyisten sich politisch äußern, dann deshalb, weil sie es ihrer Überzeugung schulden und nicht dem Mandat einer christlichen Mehrheit. Und wenn christliche Lobbyisten gegen Gesetze protestieren, die ihre Religionsausübung oder ihre Gewissensfreiheit beeinträchtigen, dann ist ihre Legitimation nicht der christliche Charakter des Landes oder des Volkes, sondern das Menschenrecht.

Und wenn heute Politiker in Europa (okay, nicht in Polen oder Malta) die christliche Karte spielen, dann sprechen sie nicht die Zustimmung des Volkes zu religiösen Lehren an, sondern ein Kulturchristentum, das mit „Liebe deinen Nächsten“, Traumhochzeiten in Kathedralen, dem Pflegehospiz, einer „schönen Leich“ und dem Umstand, dass Frauen keinen Schleier tragen, zu tun hat. Auf dieser Basis hat „doing God“ immer noch wohlfeiles politisches Potenzial – gerade weil sie im Unterschied zu den echten Glaubensüberzeugungen mehrheitsfähig ist.
Der Autor war stv.Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.02.2012)

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